Garmisch-Partenkirchen und seine jüdischen Bürger  -  1933-1945

 

 

 

 

 

Alles, was war, war schwer!“
Jakob und Leonie Liebenstein

 

Im Februar 1919 eröffnete das Ehepaar Liebenstein in Partenkirchen, Ludwigstraße 90, ein Schuhgeschäft. Was sie kurz nach dem Ende des Ersten Weltkriegs hierher geführt hat, lässt sich nicht mehr feststellen. Ihre Wurzeln weisen nach Franken und in die bayerische Pfalz: Jakob Liebenstein, geboren am 26. Januar 1883, war zum Zeitpunkt der Gründung seines Schuhhauses gerade 36 Jahre alt und kam aus Hüttenheim im Landkreis Kitzingen. Das war ein kleines fränkisches Weindorf. Seine Frau Leonie, geb. Schwarz, war am 22. April 1887 in Pirmasens zur Welt gekommen. Die pfälzische Stadt war um 1900 ein Zentrum der deutschen Schuhindustrie. Geheiratet hatte man im Oktober 1920 in Pirmasens. Die Familie bekam schon bald Zuwachs – am 16. Mai 1921 wurden Jakob und Leonie Liebenstein die Zwillinge Lieselotte und Ruth geboren. Wohnung fand man zunächst in der Badgasse 4, später im Schloßweg 7 und schließlich in der Ludwigstraße 61.[1]

Die Geschäfte entwickelten sich, die kleine Familie Liebenstein konnte existieren. Die Anzeigen, die das „Schuhhaus Liebenstein“ in die lokalen Zeitungen setzen ließ, zeugen von einem umfassenden Angebot für Damen und Herren, für Bergsteiger und für Skifahrer und auch für die Kundschaft, die Haferlschuhe trug. Die Partenkirchner Kunden wussten es zu schätzten, dass man „beim Liebenstein“ seine Schuhe in Raten bezahlen konnte. Begonnen hatte alles in der Schnitzschulstraße, Hausnummer Partenkirchen 140. Zwischendrin war man mit dem Laden von der Ludwigstraße 90 in die Ludwigstraße 36 umgezogen.

 

   

 

Eine kurze Passage aus den persönlichen Aufzeichnungen von Hans Neuner (1922-2004), aufgewachsen in der Ludwigstraße 11, erlaubt einen Blick in die Zeit, in der die Liebensteins in Partenkirchen zuhause waren. Neuner erinnerte sich an die Liebensteins aus Anlass seiner Erstkommunion, Betrachtungen über sein Kommunionbild stehen am Anfang: „Ist dieses Kommunionbild nicht wunderschön? Fotografiert in unserem Hof! Als Hintergrund das alte „Dennador“, das alte, verhaute Pflaster und links der Trinkeimer für unsere Kühe. Ich „nasskampelt“ mit Bleyleanzug, weißem Kragen, weißen Handschuhen und perfektem Schlagschatten. Die Strümpfe und die Schuhe sind auch neu. Die Kinder von armen Eltern haben vom Kaplan Gutscheine bekommen, damit sie sich in einem Schuhladen Schuhe haben kaufen können. Aber nicht beim „Liebenstein“, denn der war ein – Jud!

Mit den Liebensteinmädeln bin ich in die Volksschule gegangen. Sie haben auch im Obermarkt gewohnt, wo ihr Vater einen bescheidenen Schuhladen gehabt hat. Es war eine nette Familie und nicht wenige, nicht begüterte Schulkameraden haben mir erzählt, dass ihre Eltern beim Liebenstein Schuhe kaufen, weil sie diese mit nur 1.- Reichsmark in der Woche haben abstottern können und das war für einen Straßenkehrer wie z.B. dem „Mendl“ Sepp eine feine Sache.

Und dann sind sie gekommen, am 9. Nov. 1938 in der sog. „Reichskristallnacht“, die Spießer und Neider u. Bürgersöhne in SA-Uniform und haben dem Liebenstein den bisschen Laden demoliert und auf das Schaufenster „Judensau“ geschmiert. Und dann haben sie noch geglaubt, welche große Heldentat sie für das verschissene Vaterland geleistet haben. Möge es wahr sein, dass der Familie Liebenstein noch vor dem großen Inferno die Flucht nach Amerika geglückt ist.“[2]

   
  Auszüge aus den Aufzeichnungen von Hans Neuner (Partenkirchen, 1922-2004) über seine Begegnungen mit Jakob Liebenstein und Josef Guggenheimer  

 

Um es gleich zu sagen: Die Liebensteins konnten dem mörderischen Naziregime gerade noch rechtzeitig entkommen.

 

„Schutzhaft“

Aber der Reihe nach: Der Herr Kaplan war zwar kein Freund der Liebensteins, seine christenübliche Judenverachtung mag ihn daran gehindert haben. Der wirkliche Feind der Liebensteins residierte aber seit dem 30. Januar 1933 nicht im Partenkirchner Pfarrhof der Kirche „Mariä Himmelfahrt“, sondern im „Haus der Nationalsozialisten“ am Adolf-Wagner-Platz (Marienplatz) in Garmisch. Dort saß der mächtige Kreisleiter der NSDAP mit seinem Stab, von dort kam auch der erste gefährliche Angriff auf die Familie Liebenstein.

Am 2. Januar 1936 erhielt Josef Röhrl, „Kreiswalter“ der Deutschen Arbeitsfront (DAF) im „Haus der NSDAP“ einen Brief von SA-Obersturmführer Bräckle. In diesen Tagen wurden gerade die letzten antisemitischen Schilder und Tafeln aus Garmisch-Partenkirchen entfernt, weil sonst die Olympischen Winterspiele gefährdet gewesen wären. Bräckle schrieb, es sei ihm kaum mehr möglich, seine SA-Kameraden „vor einem gewaltsamen Über­griff“ gegen das Ehepaar Liebenstein zurück zu halten, seit drei Tagen müsse er sich „immer in der Nähe des Geschäftes aufhalten“, damit er seine Kameraden „vor Übergriffen warnen“ könne. Was war vorgefallen?

Die Liebensteins hatten zum Jahresende 1935 eine neue Hausangestellte gefunden, die sich am 31. Dezember vorstellte. Sie hieß Thine Cantor, kam aus Chemnitz, war geschiedene Ärztin, Hausarbeit nicht gewöhnt, außerdem sorgte sie sich sehr um ihren in Chemnitz zurückgebliebe­nen Sohn. Keine gute Basis für eine dauerhafte Anstellung als Hausgehilfin. Nach drei Tagen wurde das Arbeitsver­hältnis aufgelöst. Danach brach der Sturm der von der SA geschürten „Erregung“ über die Lieben­steins herein.

Am 4. Januar 1936 forderte die DAF NS-Kreisleiter Hans Hartmann dazu auf, das Ehepaar in Schutzhaft zu nehmen, „denn“, so die Begründung, „es ist unmöglich, für die Dauer SA und Bevölkerung vor gewaltsamen Übergriffen zurückzuhalten.“ Dann kam man auch noch auf die große Sorge wegen der zeitlichen Nähe der olympischen Ereignisse zu sprechen: „In Anbetracht der kommenden Olympischen Winterspiele in Garmisch-Partenkirchen könnten derartige Vorkommnisse unvorhergesehene Folgen haben.“ Diese Kombination aus Drohungen mit SA-Privatjustiz und Ankündigungen „unabsehbarer Folgen“ bei antise­mitischen Vorfällen im Vorfeld der Olympischen Spiele führte dazu, dass Kreisleiter Hartmann am 6. Januar 1936 das Bezirksamt darum „ersuchte“, „den Juden Liebenstein und dessen Frau wegen asozialen Verhaltens und vor allem zu ihrem persönlichen Schutz sofort in Schutzhaft nehmen zu lassen.“ Gleichzeitig machte er das Amt darauf aufmerksam, „dass jetzt kurz vor den olympischen Spielen … ein tätliches Vorgehen der SA unter allen Umständen verhindert wer­den muss.“

Der Schutzhaftbefehl, der dann am 7. Januar 1936 ausgestellt wurde, hatte diesen Wortlaut: „Auf Grund des § 1 der VO des Reichspräsidenten zum Schutz von Volk und Staat vom 28.2.1933 (RGBl I S. 83) und der Min.Entschl v. 2.5.1934 Nr. 2186a59 werden in Schutzhaft genommen: Liebenstein Jakob und Leonie, Garmisch-Partenkirchen, Ludwigstraße 61 (Wohnung) gez. Dr. Wiesend - In Haft genommen am 07.01.1936 auf Antrag der Kreisleitung der NSDAP, auf Anordnung des Bezirksamtes Ga.-Pa.im Amtsgerichtsgefängnis Garmisch-Partenkirchen, voraussichtliche Dauer der Schutzhaft: 3 Tage – Unterbringung im KZ Dachau wird nicht beantragt.“

Die mit dem Vollzug der Schutzhaft beauftragte Gendarmeriestation Partenkirchen nahm Jakob Lie­benstein am 7. Januar um 19.00 Uhr in Haft und lieferte ihn ins Amtsgerichtsgefängnis an der Burg­straße ein. Liebenstein erhob umgehend schriftlich Einspruch gegen seine Inhaftierung, nannte seine Gründe für die vorzeitige Trennung von der Hausgehilfin Thine Cantor, beschrieb den Widerspruch zwischen ihrer Si­tuation und den Erwartungen der Liebensteins an eine tüchtige Haushälterin und wies alle Behaup­tungen der Cantor zurück.

Dramatisch wurde die Situation bei der Verhaftung von Leonie Liebenstein. Sie erlitt einen Schwächeanfall und brach zusammen, so dass sie zunächst überhaupt nicht vernommen werden konnte. Auf Anord­nung von Bezirksarzt Dr. Zick brachte man sie ins Krankenhaus. Alles spielte sich vor den Augen und Ohren der zwei fünfzehnjährigen Töchter des Ehepaars Liebenstein ab.

Am 8. Januar 1936 bestätigte Amtsgerichtsdirektor von Valta, zugleich Vorstand des Amtsgerichtsge­fängnisses, die Einlieferung von Jakob Liebenstein „am 7. Januar 1936 nachts 11 Uhr 15 Min in Schutzhaft“ und verfügte seine Entlassung „am 10. Januar 1936 nachmittags 5 Uhr.“ Der Leiter des Bezirksamts Garmisch, Dr. Reinhard Wiesend, teilte der Bayerischen Politischen Polizei (Gestapo) am 31. Januar mit, dass „die Schutzhaft der Leonie Liebenstein, die auf Grund amtsärztlichen Gutachtens im Krankenhaus Garmisch entsprechend durchgeführt wurde“, ebenfalls am 10.01.1936 aufgehoben worden sei.

Am 6. Februar 1936 eröffnete Adolf Hitler die IV. Olympischen Winterspiele Garmisch-Partenkirchen. Antijüdische Vorfälle sind in diesen elf Tagen nicht bekannt geworden.[3]

 

„Unlauterer Wettbewerb“

Die Liebensteins wussten jetzt aber, dass sie jederzeit wieder der Willkür der SA, der DAF, des NS-Kreisleiters ausgesetzt sein konnten. Niemand konnte sie wirklich beschützen. Und sie taten sicher alles, um nicht aufzufallen. Die Frage war nur, was mussten sie unterlassen, um nicht aufzufallen? Die Nazis waren erfindungsreich.

Am Ende des Olympiajahres, am 2. Dezember 1936, meldete die örtliche Gendarmerie dem Bezirksamt Garmisch „Die im Bezirk ansässigen Juden verhalten sich ruhig.“

Nur die Liebensteins machten Ärger. Was war vorgefallen? Vor ihrem Schuhladen in der Ludwigstraße wies ein Plakat auf ein Angebot zur Reparatur von Schuhen hin. Darauf stand kurz und bündig „Reparaturen – schnell, gut + billig!“ Das war der Stein des Anstoßes. Jakob Liebenstein wurde „wegen unlauteren Wettbewerbs“[4] angezeigt und zwar mit der Begründung, dass er die Reparaturen nicht selbst vornahm und mit einem erhöhten Arbeitslohn kalkulierte. Ein neuer Willkürakt, um dem einzigen jüdischen Geschäftsmann in Partenkirchen zu signalisieren „Dich wollen wir hier nicht länger haben!“

 

 

 

 

Vertreibung

Die Vertreibung der Liebensteins deutete sich an. Am 22. August 1938 erhielt Jakob Liebenstein Post von Garmisch-Partenkirchens Bürgermeister Jakob Scheck – so wichtig, dass sie „gegen Zustellungsnachweis“ überbracht wurde. Der Bürgermeister teilte mit, dass er die Eintragung des Gewerbebetriebes Liebenstein „in das Verzeichnis der jüdischen Gewerbebetriebe verfügt“ hatte. Die judenfeindliche Wirtschaftspolitik hatte den Olympiaort erreicht. Auch hier wurden jetzt Betriebe nach rassischen Gesichtspunkten sortiert. [5] Jetzt fehlte nur noch ein Anlass, um Juden und jüdische Betriebe aus Garmisch-Partenkirchen zu vertreiben.

Der Anlass kam mit den Ereignissen der „Reichskristallnacht“, die am frühen Morgen des 10. November 1938 auch Garmisch-Partenkirchen erreichten. Die jüdischen Bürger des Ortes wurden in einer von NS-Kreisleiter Johann Hausböck koordinierten Aktion vor dem „Haus der Nationalsozialisten“ zusammengetrieben und dann einzeln vom Kreisleiter in seinen „Amtsräumen“ zum Verlassen des Ortes aufgefordert. Schon auf dem Weg dorthin hatten sich quälende Szenen abgespielt.

Im Spruchkammerverfahren gegen den ehemaligen Kreisleiter Hausböck bestätigte Anneliese Wollenburg als Zeugin aus Garmisch-Partenkirchen, was sie am 10. November 1938 in der Ludwigstraße gesehen hatte: „Ich ging mit meiner Freundin gegen 1/2 10 Uhr einkaufen und kam die Ludwigstraße herunter und habe wahrgenommen, dass die Schaufen­sterscheibe des Juden Liebenstein zerschlagen war. Dies wunderte mich aber nicht sonderlich, weil es schon öfter der Fall war. Im Laden meines Kaufmannes hörte ich dann, dass die Juden verhaftet und auf die Kreisleitung gebracht werden.“[6]

Auch der schon zitierte Hans Neuner erinnerte sich daran, dass „die Spießer und Neider u. Bürgersöhne in SA-Uniform … dem Liebenstein den bisschen Laden demoliert und auf das Schaufenster „Judensau“ geschmiert“ haben.[7]

Die Begegnung am 10. November 1938 zwischen Jakob Liebenstein und Georg Schütte, 2. Bürgermeister des Marktes Partenkirchen von 1929 bis 1933, schilderte Schüttes Tochter Elisabeth Borchardt. Liebensteins Schuhgeschäft sei schon beschmiert gewesen, eine größerer Menschenansammlung, unter ihnen etliche SA-Leute, habe sich davor versammelt. Ihr Vater sei Zeuge von Liebensteins Protest dagegen geworden, dass man ihn ohne jeden Pfennig Geld zum „Haus der Nationalsozialisten“ wegschleppen wollte. Schütte sei zu Liebenstein gegangen und habe ihm zwanzig Mark in die Hand drücken wollen, das sei aber von einem SA-Mann mit Gewalt verhindert worden. Der Geldschein sei auf der Straße liegen geblieben.[8]

Liebenstein und seine Frau werden anschließend beim Kreisleiter das getan haben, was 42 weitere jüdische Bürger auch getan haben – sie unterzeichneten ein Schriftstück, in dem sie versicherten, dass sie Garmisch-Partenkirchen freiwillig mit dem nächsten Zug verlassen und die Regelung ihrer Besitzverhältnisse vor Ort vertrauensvoll in die Hände der NSDAP legen würden. Andernfalls, so drohte Kreisleiter Hausböck, mit einer Pistole spielend, würden sie in ein Konzentrationslager gebracht werden.

Liebenstein, seine Frau und seine Töchter waren jetzt von einer Stunde zur anderen ohne sicheren Wohnsitz und ohne jeden Pfennig Geld. SA „geleitete“ sie zum Bahnhof. Dann setzten sie sich in den Zug nach München. Dort fand die Familie zunächst in der Tattenbachstraße 3 und im Juni 1939 in der Liebherrstraße 1 eine Unterkunft. Die Garmisch-Partenkirchner Wohnung am Schlossweg 7 wurde schon zwei Tage später von den Garmisch-Partenkirchner Polizisten Volnhals und Schulz versiegelt.

 

Arisierung

Der Zugriff auf Liebensteins Schuhhaus ließ nicht lange auf sich warten. Am 14. November 1938 bat Roman W. aus Partenkirchen NS-Kreisleiter Hausböck, „mir umgehend Bescheid zukommen zu lassen, wann und wo man sich hinwenden kann betreffs der Arisierung des Geschäftes Liebenstein.“[9] Bürgermeister Scheck, der mit dem Antrag befasst war, drückte sich in seiner Antwort sehr vorsichtig aus: „Liebenstein ist nicht mehr hier, sein Geschäft wurde polizeilich geschlossen.“[10] Außer­dem sei in dieser Frage die Anhörung der Kreisleitung notwendig. Xaver M. aus Garmisch verband sein Gesuch vom 15. November 1938 auf Übernahme des Liebensteinschen Ladens gleich mit einer sehr eindeutigen Feststellung: „Nachdem aus Garmisch-Partenkirchen endlich sämtliche Juden verschwunden sind, wird es wohl auch nicht mehr lange dauern, bis das bisher von dem Juden Jacob Liebenstein in Partenkirchen Ludwigstr. 36 geführte Geschäft in die Hände eines Ariers übergeht.“ Wenige Tage nach ihm meldete sich noch ein dritter Interessent: Johann W. aus Garmisch begründete sein „Gesuch um Erwerbung des Schuhgeschäftes des Liebenstein“ damit, dass er ein „strebsamer Mann arischer Abstammung“ sei und „sein Geschäft vergrößern" wolle.[11] Den Zuschlag erhielt Xaver M.[12]

 

Abwicklung des Schuhgeschäfts Liebenstein[13]

Am 26. November 1938, gut zwei Wochen nach dem Garmisch-Partenkirchner Pogrom vom 10. November ging es los – mit einer Frage von Albert Kleinheinz, einem Schuhhersteller aus Möglingen, an Bürgermeister Scheck. Es handelte sich um Forderungen in Höhe von RM 143,70. Der Fabrikant wollte die neue Adresse von Liebenstein in Erfahrung bringen, es handle sich um eine jüdische Firma. Scheck teilte mit, der „Aufenthalt des Liebenstein ist z. Zt. unbekannt“ und verwies auf die „Verordnung zur Durchführung zur Ausschaltung der Juden aus dem deutschen Wirtschaftsleben“, die gerade drei Tage alt war.

Am 28. November 1938 ging es um die Arisierung des Liebensteinschen Brennholzes. Die Deutsche Arbeitsfront schrieb: „Da das Brennholz erst einige Tage vor der Ausweisung des Lieben­stein geschnitten worden ist, ist auch dasselbe noch ganz vorhan­den und kann vom neuen Geschäftsmann leicht übernommen werden."

Am 8. Dezember 1938 wurde es ernst: Landrat Dr. Wiesend teilte Liebenstein mit  - München 15, postlagernd – dass Einzelhandelsverkaufsstellen von Juden grundsätzlich aufzulösen und bis zum 31.12.1938 abzuwickeln seien. Dies gelt auch für sein Schuhwarengeschäft. Da er Garmisch-Partenkirchen verlassen und seinen Wohnsitz verlegt habe „und auch sonst eine ordnungsgemäße Abwicklung durch Sie keineswegs gewährleistet ist“, sei durch das Bezirksamt Josef B. als Ab­wickler bestellt worden. Wiesend stellte die Dinge einfach auf den Kopf – Liebenstein hatte seinen Wohnort auf Druck der NSDAP Hals über Kopf aufgeben müssen, jetzt drehte man ihm daraus einen Strick. Er konnte sich nicht einmal beschweren.

Am 10. Dezember 1938 bat die Kreditschutzabteilung des Gesamtverbandes Deutscher Wirkereien, Chemnitz, den Markt Garmisch-Partenkirchen um Auskunft, ob Liebenstein inhaftiert oder nach Polen abgeschoben worden sei. Es gebe noch eine Forderung in Höhe von 111,40 RM.

Am 14. Dezember 1938 teilte Landrat Dr. Wiesend dem Abwickler Josef B. mit „dass das Geschäft Liebenstein nicht auf­gelöst, sondern in arischen Besitz übergeführt werden soll“.

Am 21. Dezember 1938 forderte die Industrie- und Handelskammer München die „Beiträge zu unserer Kammer für das Rechnungsjahr 1938 (April 1938 bis März 1939)“ in Höhe von RM 9,05 RM.

Am 28. Dezember 1939 übersandte Erna Buhmann, HNO-Fachärztin in Garmisch-Partenkirchen, der Kreisleitung der NSDAP die Liquidation für „die Jüdinnen, Frau Liebenstein und Tochter Lieselotte, die im abgelaufenen Halbjahr einigemale meine ärztliche Hilfe bean­sprucht haben.“

Am 31. Dezember 1938 gab die Industrie- und Handelskammer München dem Be­zirksamt Garmisch-Partenkirchen bekannt, dass „anlässlich der bei der Gauleitung gepflogenen Verhandlungen über die Feststellung derjenigen jüdischen Geschäfte, die erhalten bleiben sollen,“ darüber Einigkeit bestanden habe, „dass die Weiterführung des Geschäftes des Juden Liebenstein erwünscht erscheint."

Am 3. Januar 1939 wurde, „auf Wunsch der Kreisleitung und der DAF“, der Steuerberater Josef Geiselbrechtinger als neuer „Abwickler“ für das Schuhhaus Liebenstein eingesetzt. Am gleichen Tag wurde der „Kaufvertrag für die Übernahme des jüdischen Schuhgeschäfts J. Liebenstein" zwischen Geiselbrechtinger und Xaver M. unterzeichnet - mit "Übernahme des gesamten Warenbestandes für RM 10996,17." Für Einrichtung, Schuhe und Material waren RM 18219,25 angesetzt worden, abgeschrieben wurden RM 7223,08. Liebenstein konnte diese Rechnung nie prüfen oder prüfen lassen.

Am 4. Januar 1939 stellte das Finanzamt Garmisch-Partenkirchen nach Betriebsprüfung bei Liebenstein fest, „der Betrieb ging am 1. Januar 1939 in arische Hände über.“

Am 6. Januar 1939 bestätigte die Bezirkssparkasse Garmisch-Partenkirchen, „dass von Herrn Xaver M. in Sachen Jacob Liebenstein ein Betrag von 10996,17 einbezahlt worden ist.“

Am 11. Januar 1939 forderte Bürgermeister Jakob Scheck für das Jahr 1938 Gewerbesteuer in Höhe von RM 285.- und für das Jahr 1939 die Bürgersteuer in Höhe von RM 27.- „in der Sache Liebenstein“.

Am 11. Januar 1939 bemerkte die Industrie- und Handelskammer München, „dass der nach Befriedigung der Gläubiger verbleibende Betrag dem Oberfinanzpräsidenten auf Sperrkonto zur Verfügung zu halten ist.“

Am 12. Januar 1939 stellte die Buchdruckerei Adam „100 Postkarten Mitteilung betr. Liquidation Liebenstein“ mit RM 6.- in Rechnung.

Am 14. Januar 1939 setzte Abwickler Josef Geiselbrechtinger die Industrie- und Handelskammer München von der „Schätzung und Errechnung des tatsächlichen Verkaufswertes“ in Kenntnis, die der „zufällig in Garmisch-Partenkirchen im Urlaub anwesende Sach­verständige Ihrer Stelle, Herr Quilling, kostenlos vorgenommen" hatte. Ergebnis: 232 Paar Herrenschuhe, 829 Paar Damenschuhe, 390 Paar Knaben/Mädchenschuhe, 247 Paar Strümpfe, 121 Paar Überschuhe, 183 Paar Turn- und Kletterschuhe. Am gleichen Tag ersuchte Jakob Liebenstein den Abwickler darum, ihm aus dem Erlös seines Ge­schäfts einen Betrag von RM 500.- zur Bestreitung seines Lebensunterhalts und den seiner Familie zukommen zu lassen.

Am 15. Januar 1939 ersuchte Abwickler Josef Geiselbrechtinger Landrat Dr. Wiesend um eine Anweisung, „in welchem Sinn ich diesen Brief beant­worten soll." Am gleichen Tag erteilte Landrat Dr. Wiesend die Genehmigung zum Erwerb des Schuhgeschäftes Lieben­stein in Partenkirchen, Ludwigstr. 36 durch Xaver M.

Am 17. Januar 1939 stellte die Israelitische Kultusgemeinde München fest, dass Liebenstein ihr noch RM 142.50 schuldete.

Am 23. Januar 1939 antwortete Landrat Dr. Wiesend auf die Bitte Liebensteins vom 14. Januar 1939. Er schrieb: “Ihr Verlangen auf Überweisung eines Betrages von 500.- RM zur Be­streitung Ihrer Lebsucht ist insofern verfrüht, als die Abwicklung des Geschäfts noch nicht völlig durchgeführt ist und daher noch nicht feststeht, ob und welcher Betrag aus dem Verkauf des Ge­schäfts als Reinertrag verbleibt. Ihrem Verlangen kann daher vor­erst nicht stattgegeben werden."

Am 25. Januar 1939 bat Jakob Liebenstein Landrat Dr. Wiesend um Zusendung der vier in Garmisch-Partenkirchen eingezogenen Pässe an das Polizeipräsidium München.

Am 26. Januar 1939 bescheinigte Landrat Dr. Wiesend dem Polizeipräsidium München, dass die Pässe der Liebensteins „anlässlich der Judenaktion in Garmisch-Partenkirchen am 10.11.1938 nicht wieder ausgehändigt“ worden seien. Wiesend fügte hinzu: „Nach einer Mitteilung des Liebenstein vom 3.12.38 will letzterer mit seiner Familie für dauernd in die Schweiz auswandern."

Am 6. Februar 1939 wandte sich Jakob Liebenstein erneut an Landrat Dr. Wiesend mit der Bitte, ihm aus dem Verkaufserlös seines Geschäftes 1000.- RM zu übersenden. Er brauche das Geld für den Lebensunterhalt seiner Familie, für die Vorbereitungen zur Auswanderung seiner Töchter und für eine Operation seiner Frau.

Am 9. Februar 1939 benachrichtigte Abwickler Josef Geiselbrechtinger Landrat Dr. Wiesend über die Außenstände des Schuhgeschäfts Liebenstein: „Lieferantenschulden 8443.-, priv. Schulden L. 194.-, Abwicklungskosten 451.-, Summe 9089.- " und stellte fest, es "dürften noch ca. 1400.- bis 1500.- RM zugunsten des L. übrig bleiben."

Am 14. Februar 1939 klagte Jakob Liebenstein, dass sein Brief vom 6. Februar 1939 an den Landrat „leider ohne Antwort und Geldsen­dung“ geblieben sei. Er wiederholte seine Bitte, „mir den angeforderten Betrag doch sofort zugehen zu lassen, denn ich habe nichts mehr zum Le­ben, und andererseits bin ich mit der Auswanderung meiner Töchter behindert, da mir auch zur Erledigung dieser Sache Mittel feh­len und dieselben so bald wie möglich abreisen sollen, da sie ei­nem Handwerkskurs in England zugeteilt sind.“

Am 16. Februar 1939 versicherte Landrat Dr. Wiesend: "Sobald das Einverständnis des Herrn Oberfinanzpräsidenten vor­liegt, erfolgt die Auszahlung des erbetenen Zuschusses."

Am 20. Februar 1939 teilte Jakob Liebenstein Landrat Dr. Wiesend mit, er habe vom Oberfinanzpräsidium Bescheid erhalten, dass sein Antrag  auf Ausreise der Töchter genehmigt sei und fügt hinzu: "Ich möchte Sie deshalb nochmals höfl. um sofortige Zusendung bitten. Nehmen Sie mir bitte mein öfteres Schreiben nicht übel, es war durch die Dringlichkeit be­dingt." Abwickler Josef Geiselbrechtinger hatte inzwischen für die Durchfüh­rung der Geschäftsliquidation schon RM 350.- erhalten.

Am 21. Februar 1939 erteilte der Oberfinanzpräsident Landrat Dr. Wiesend die Genehmigung zur Auszahlung von RM 1000.-, „da dieser Betrag glaubwürdigerweise für Auswanderungs­zwecke verwendet werden soll."

Am 9. März 1939 bat Jakob Liebenstein Abwickler Josef Geiselbrechtinger um Vorlage seines Einkommensteuerbescheids für das Jahr 1938 bei der Israelitischen Kultusgemeinde München, Lindwurmstr. 125.

Am 12. April 1939 flehte Jakob Liebenstein „um Zusendung von RM 200.- aus meinem Gut­haben, da ich das Geld zum Leben brauche."

Am 23. April 1939 benachrichtigte Jakob Liebenstein Landrat Dr. Wiesend über seines Aussicht, „unter Umständen schon in 1 1/2 - 2 Monaten endgültig auszuwandern. Ich möchte deshalb höflichst bitten, dass die Angelegenheit meiner früheren Firma Jakob Lieben­stein, Ludwigstr. 36, Partenkirchen, bald endgültig abgeschlossen wird, damit ich nötigenfalls über den Restbetrag schnellstens ver­fügen kann und an der Auswanderung nicht gehindert bin." Am gleich Tag wandte er sich an Abwickler Josef Geiselbrechtinger: „Vielleicht ist es Ihnen möglich, mir einstweilen RM 45.- an­zuweisen, damit ich am 15. meine Miete pünktlich zahlen kann. Am 25. April 1939 teilte Landrat Dr. Wiesend Jakob Liebenstein mit: "Die Abwicklung Ihres Geschäfts ist abgeschlossen, es verbleibt ein Barbestand von RM 421,91, sowie Außenstände von RM 45,56. Die Beitreibung dieser Außenstände bleibt Ihnen selbst überlassen."

Am 9. Mai 1939 genehmigte das Finanzamt Garmisch-Partenkirchen „die Auszahlung des zu Gunsten des Liebenstein verbleibenden Restbetrages."

Am 12. Mai 1939 benachrichtigte Landrat Dr. Wiesend Abwickler Josef Geiselbrechtinger von der Entscheidung des Finanzamts Garmisch-Partenkirchen – „der Betrag ist somit an Liebenstein auszuzahlen." Es blieben ihm ganze 421,91 RM.

 

Die Auswanderung

Aus dem Brief von Jakob Liebenstein an Landrat Dr. Wiesend, den er am 23. April 1939 geschrieben hat, wissen wir, dass Liebensteins Töchter Lieselotte und Ruth am 25. März 1939 nach England fliehen konnten, vermutlich mit Hilfe eines der Kindertransporte, die zwischen November 1938 und August 1939 die Ausreise von 10000 jüdischen Kindern und Jugendlichen aus Deutschland möglich gemacht haben.

Jakob Liebenstein hoffte, dass er und seine Frau Leonie ihren Töchtern bald folgen würden. Er notierte am 23. April 1939: „Die Genehmi­gung von England (Permit) kann sehr rasch kommen."

Die Hoffnung ging in Erfüllung. Von Jakob Liebenstein gibt es ein Lebenszeichen aus dem Jahre 1960. Er schrieb am 14. April 1960 aus New York, 4530 Broadway, an den Garmisch-Partenkirchner Arzt Dr. Carl Neu: „Sehr geehrter Herr Dr. Neu! Heute möchte ich Ihnen den Empfang des von Frl. Hildegard geschriebenen Briefes & ärztlicher Bescheinigung vom 6. April bestätigen & danke ich Ihnen für Ihre Hilfe recht herzlich. Ich freute mich sehr über Ihr weiteres Anerbieten, dass falls weiter etwas notwendig für mich & meine Familie sei, Sie gerne helfen wollen. Ich danke auch bestens dafür und entnehme daraus, wie gut Sie es mit uns meinen. Ich hoffe nur, dass mir Ihre Bescheinigung gute Dienste leistet.

Auch wir können uns an Sie alle gut erinnern, es waren doch schöne Jahre, die wir dort verbringen konnten. Alles, was war, war schwer, aber wir müssen vorwärts schauen & weiter leben. Wir haben uns hier ganz gut eingelebt, New York ist eine Acht Millionen Stadt & geht es halt lebhafter her wie in Partenkirchen, aber der Mensch kann sich an vieles gewöhnen.

Fräulein Hildegard meinen besonderen Dank für ihre Mühe. Mit den besten Grüßen, auch von meiner Familie & vorzüglicher Hochachtung Jakob Liebenstein“[14]

 

  Rechnung für Dr. Carl Neu vom 18. Juni 1937 für 1 Paar Kneipp-Sandalen

Brief von Jakob Liebenstein aus New York an Dr. Carl Neu in Garmisch-Partenkirchen vom 14. April 1960

 

 

Wiedergutmachungsverfahren

Zwischen 1948 und 1952 wurde vor der Wiedergutmachungskammer am Landgericht München in der Sache Schuhgeschäft Liebenstein wegen Rückerstattung verhandelt.

Am 30. Juli 1970 wandte sich das Legal Aid Department (Jewish Restitution Successor Organisation) in der „RE-Sache Jakob Liebenstein“ an das Gewerbeamt Garmisch-Partenkirchen, bat um Hilfe und teilte mit: “Wir führen ein Rückerstattungsverfahren gegen das Deutsche Reich für die Erben nach Jakob Liebenstein.”[15]  Das Amt für öffentliche Ordnung des Marktes Garmisch-Partenkirchen antwortete am 27. August 1970: „Nach Einträgen in der Einwohnerkartei ist Herr Liebenstein mit seiner Ehefrau und den beiden Töchtern ebenfalls am 10.11.1938 nach München, Baaderstraße 25 oder Tattenbachstraße 3 verzogen. Wie aus einem Aktenvermerk hervorgeht wurde die Wohnung der Familie Liebenstein hier am Schloßweg 7/1 am 12.11.1938 versiegelt. Leider haben wir in unseren Akten keine Hinweise gefunden, wann und wie das Geschäft und das Geschäftsvermögen liquidiert wurde.“

 

Jakob Liebenstein ist im August 1964 in New York gestorben.

 


[1] MA GaPa. – Ordnungsamt, Gewerbekartei

[2] Aus den Aufzeichnungen von Hans Neuner, Innenarchitekt zu Partenkirchen, Ludwigstr. 11 (1922-2004) – 2011 im jpg-Format erhalten von seinem Sohn Florian Neuner

[3] alle StAM - LRA 199039 ,199041 – Schutzhaft und KZ Dachau / Liebenstein

[4] StAM - LRA Garmisch-Partenkirchen 61614

[5] MA GaPa. - 20.08.1938 Ortspolizeibehörde Garmisch-Partenkirchen an die Kreisleitung der NSDAP Garmisch-Partenkirchen

[6] Spruchkammer Garmisch-Partenkirchen gegen NS-Kreisleiter Hans Hausböck - A4-1711/3024/48 – Anneliese Wollenburg, geb. 30.10.1885, wohnhaft in Garmisch-Partenkirchen, Zweigstraße 5

[7] Hans Neuner s.o.

[8] Quelle: Elisabeth Borchardt, Tochter von Georg Schütte

[9] StAM - LRA Garmisch-Partenkirchen 61667 – Arisierung Liebenstein

[10] ebd. 15.11.1938

[11] ebd.

[12] ebd.

[13] alle StAM - LRA Garmisch-Partenkirchen 61667 – Arisierung Liebenstein

[14] Brief im jpg-Format erhalten von Peter Neu

[15] MA GaPa – Akt Ordnungsamt, Uns.Nr.: LAD 80 137 – C/I - Ko/Se

 

© Alois Schwarzmüller 2013