Walther Siegfried, Hermann Levi und Haus Riedberg

 

 

 


Walther Siegfried, Schweizer Schriftsteller und Erzähler, Sohn eines Eisenbahndirektors, wurde am 20. März 1858 in Zofingen im Kanton Aargau geboren. Am  1. November 1947 starb er in Partenkirchen. Ehe er  den Weg zur Literatur wählte, war er - von 1880 bis 1882 - Bankkaufmann in Paris. 1886 zog Siegfried nach München. Dort veröffentlichte er 1890 den Roman "Tino Moralt. Kampf und Ende eines Künstlers". Die episch breite Darstellung eines Künstler- und Malerschicksals wurde vom zeitgenössischen Lesepublikum als Werk in der Nachfolge von Gottfried Kellers "Grünem Heinrich" gesehen. Nach seiner Heirat ließ sich Walter Siegfried im Jahre 1890 in Partenkirchen nieder. Weitere Werke: "Fermont" (1893), "Adolf Stäbli als Persönlichkeit" (1893), "Paris vor dem Weltkrieg" (1917), "Bilderbuch eines Lebens" (3 Bde., 1926-1932), "Frau Cosima Wagner. Studie eines Lebens" (1930)
"Wie Jakob Schaffner gehörte Walther Siegfried zu jenen Schweizern, die ihre Dichterlaufbahn auf Biegen und Brechen mit dem wechselvollen Schicksal Deutschlands verknüpften und darum beides erlebten: übergrosse Berühmtheit und vorschnelle völlige Vergessenheit. 1917, als sein Name Rang und Klang hatte, machte Siegfried mit gehässigen antifranzösischen Äusserungen von sich reden. Und 1945 glaubte der bald Neunzigjährige bis zuletzt unverdrossen an Hitlers Endsieg. Dabei war sein Ruhm, der sich noch immer einzig auf den Erstling Tino Moralt gründete, auch in Deutschland längst bis zur Unkenntlichkeit verblasst." (www.linsmayer.ch)

 

"Auch Levi begleitete nun mein Schaffen mit tätigem Interesse. Er hatte, durch seine gestörte Gesundheit bewogen, 1895 sein Münchner Amt als General­musikdirektor niedergelegt und war eines Tages bei uns erschienen, die Absicht kundgebend, sich ebenfalls nach Partenkirchen zurückzuziehen. Nachdem diesem Schritte bald seine Verlobung mit der Witwe Konrad Fiedlers gefolgt war, suchte er nach einem schönen Bauplatz und bekam den herrlich auf einer Terrasse am Berghang gelegenen Sommerkeller des Raßbräus zu kaufen, an dessen Stelle er nach dem Entwurf Adolf Hildebrands sich das Haus „Riedberg" erbauen ließ. Hier brachte er fortab den größten Teil des Jahres zu, nur während einiger Wintermonate in einer Stadtwohnung seinen Zusammenhang mit München weiter pflegend…

Für die nächsten Jahre indessen war mit Riedberg ein Zuwachs an höchster Kultur in unseren Hochlandswinkel gekommen. In die schön bemessenen Räume, einen Saal, die Bibliothek, die Kabinette in den runden Ecktürmen zog mit Levis eigenem Kunstbesitz der ganze Schatz der Fiedlerschen Gemälde, Skulpturen und Gobelins ein. Lukas Cranachs „Ruhe auf der Flucht" leuchtete von der Wand; überall die tiefen Farbklänge Maréesscher Werke, der Adel Feuerbachscher Bilder, die Magie Böcklinscher Phantasieschöpfungen und Porträtierungen; endlich eine ganze Schau bedeutender Zeitgenossen von Lenbachs Hand: Bismarck, Richard Wagner, Klara Schumann, Marées, Levi und Lenbach selbst. In der verglasten weißen Loggia mit den fünf hohen Mauerbogen und den Kreuzgewölben, die dem Saal nach dem Gebirge hinaus in der ganzen Hauslänge vorgelagert war, reihten sich Marmor- und Bronzewerke Hildebrands. Hier später die königliche Gestalt von Frau Cosima Wagner in ihren Schleppgewändern sinnend auf und ab schreiten zu sehen, gewähr­te einen Gesamteindruck von Kulturhöhe der seltensten Art.

Ausgeschieden aus seiner enormen musikalischen Betätigung, noch in voller gei­stiger Leistungsfähigkeit, bedurfte Levi in diesem Refugium nun, ähnlich wie Simson in seiner Berliner Altersexistenz, eine große Menge intellektueller und künstlerischer Tagesnahrung. An dem regelmäßigen Vorlesen in der grünen Bibliothek nahm ich nicht teil, sondern ließ meine Frau dies genießen; so viel verschiedenartige philoso­phische, dichterische, fachliche Lektüre hätte mich die Sammlung für meine jeweili­ge Schaffensaufgabe gekostet. Die Intensität meines Aufnehmens regelte das Maß des Zuführungsmöglichen, und von Gedrucktem vertrug ich von je nur eine gewisse Portion. In dem übrigen, fast täglichen Verkehr mit Levi dagegen erwuchs mir großer Gewinn und wurde mir mancher interessante Einblick in das persönliche Wesen so­wohl wie in das Schaffen zeitgenössischer Großer zuteil. Denn wie zu Wagner, hatte Levi auch zu Brahms, zu Feuerbach, zu Böcklin und vielen anderen Schöpferischen in einem nahen freundschaftlichen Verhältnis gestanden und war dem Werden ihrer Werke gefolgt. Für Levi war Wagner auch als Mensch Gegenstand einer Verehrung, an der er kein Mäkeln duldete. Selbst die gelegentlichen menschlichen-kleinen Unausstehlichkeiten des großen Mannes und sein auch für weitherzig Urteilende zu­weilen doch unbehagliches Verhalten galten ihm lediglich als der Erdenrest, der auch der größten Persönlichkeit angehängt; als das verständnisvoll in Kauf zu nehmende Schlackenzeug in dem immerwährenden Feuerbrande dieses von seinem Dämon ru­helos seiner schöpferischen Bestimmung zugetriebenen Genius.

Über die Art, wie Wagner gearbeitet, schilderte mir Levi, daß er in Bayreuth eines Tages früher als sonst aus einer Probe ins Haus Wahnfried zurückkehrend, Wagner noch im Saal, durch den er gehen mußte, in die Instrumentierung von Parsifal vertieft getroffen. Ihn nicht zu stören, sei er leise hinter ihm durchgehuscht; aber Wagner habe sich zurückgebogen: „Nee, nee! Wenn es Sie interessiert - mich stört es gar nicht - setzen Sie sich nur her!" Und hinter ihm Platz nehmend, habe er nun verfolgt, wie Wagner in unbegreiflichem Tempo nach den vor ihm liegenden Orchesterskizzen die Partien aller einzelnen Instrumente über die ganzen Bogenseiten herunter eintrug, fort, fort, immerfort, daß es nur so wuchs und tönte."Ich verstehe doch auch etwas von Partituren", meinte Levi, „aber da war ich Zeuge eines Wunders!“

(Wie auch Brahms einmal Levi gestanden, daß die Partitur des Tristan für ihn ein Wunder, kein Werk mehr eines Menschhirns sei.)

- Im bescheidenen Maße der verliehenen Gaben wurde auf Riedberg und im Geistbüchl nun auch wettgearbeitet. Levi gab die selbständigen kleinen Erzählungen, die in den größeren Werken Goethes eingestreut liegen, in einem Sammelbande her­aus. Er stellte mit Aussprüchen Goethes - für die besondere Persönlichkeit von Frau Cosima Wagner gewählt - einen Jahreskalender zusammen. Er bearbeitete mangel­hafte Texte klassischer Opern. Es folgte ein Heft eigener Lieder. Daneben spürte er unermüdlich allen vorhandenen Dokumenten römischer und sonstiger Herkunft nach, die über die Lebenszeit und das Auftreten des Jesus von Nazareth existierten, um das Historische der dagewesenen Persönlichkeit Christi zusammenzubauen. Endlich pflegte er einen fortlaufenden brieflichen Austausch mit ein paar besonderen Menschen, vor allem mit Wilhelm Busch.

Für die Beurteilung dessen, was bei mir entstand, war Levi mir ein kostbarer Mann. Voll Neugier lief er mit einem zum Prüfen reif gewordenen Manuskript wie mit einer erwünschten Beute nach Haus. Er las scharf kritisch, hinsichtlich des Aufbaues wie der Durchführung der Charaktere, und ging mit der ganzen Subtilität seiner musika­lischen Empfindung besonders auch dem Sprachlichen bis auf jede Ver­vollkommnungsmöglichkeit nach. Dann brachte er mir die Arbeit mit seinen notier­ten Fragen und Erwägungen zurück, eine um die andere mit mir durchzusprechen…

Aber auch von außen her wurde unser Leben unaufhaltsam vielfältiger. Levis Ansiedlung zog beständig Besuche von Bedeutung herbei und brachte uns mit ih­nen in Berührung, vielfach zu großem Genuß. Nur ließen sich dadurch dem gesell­schaftlichen Verkehr die Grenzen nicht immer mehr nach dem Erfordernis der Arbeit setzen, wie es mit den alten Freunden und meinen Angehörigen bisher möglich ge­wesen war.

Oft ergab der Zufall auf Riedberg merkwürdige Mischungen. Es kam vor, daß Stöcker nach einer seiner Sonntagspredigten, die Levi eifrig besuchte, bei ihm zu Tische war und dort Possart traf. Der fanatische Antisemit in der Gesellschaft zweier Abkömmlinge der semitischen Rasse, Weltmann genug, sich mit beiden, als geistig hervorragenden Menschen, ausgezeichnet zu unterhalten!

Als den für mich bedeutsamsten Zuwachs hatte ich die häufigen Anwesenheiten Adolf Hildebrands bei Levi und den bald ausgiebig sich gestaltenden Umgang mit ihm zu erkennen…

Wenn so mannigfache Anregungen durch Riedberg in unsere Tage gekom­men waren, gelangte hingegen Heyses Absicht, sich auf seinem gekauften Land­stücke anzusiedeln, leider nicht zur Verwirklichung. Lungenentzündungen, die ihn wiederholt befielen, nötigten ihn auf eine Reihe von Jahren die Winter fern vom rauhen Klima Münchens zu verbrin­gen und statt seinen Sommersitz im Hochland zu bauen, eine Wintervilla am Gardasee zu kaufen. Was mit dem Wegfall dieses Heyseschen Bauprojektes an verheißenden Aussichten für Parten­kirchen verloren ging, war ernstlich zu be­klagen. Denn schon hatte auch Lenbach Lust geäußert, es seinen Freunden Heyse und Levi gleichzutun, und Gabriel Seidl ein unterhalb von St. Anton fein in die Landschaft hinein zu komponierendes Gebirgshaus für sich erwogen. Die Niederlassung dieser vier auserlesenen Münchner Künstlerpersönlichkeiten hätte einen vollständig anders gearteten weite­ren Ansiedlerzuzug nach Partenkirchen zur Folge gehabt, als er, aus den hetero­gensten Elementen gemischt und ohne allen verständnisvoll regelnden Einfluß auf die fernere bauliche Ausgestaltung des wachsenden Ortes, dann einsetzte…

Von seinem Riedberg konnte Levi sich in diesem Jahre kaum trennen. Der Herbst war goldig geblieben bis in den Dezember hinein; dann kam die Schnee­pracht, neue Sonne, neue Stille. Ein gedeihliches Leben körperlich und geistig, - warum aus solcher Gnade in die Stadtnebel hinein? Mitte Januar 1900 erst willigte er in die Übersiedlung zur Winterexistenz in der Prinz-Ludwig-Straße. „Aber zu Ostern" - verhieß er -„bin ich wieder da!"

Den letzten Abend verbrachte er bei uns. Es war eine zauberische Wintervollmondnacht. Nach Tisch kehrten wir in den Saal zurück. Bis zutiefst in den Raum schimmerten die weißen Zacken und Wände der Wettersteinkette durch die hohen Erkerfenster herein. Da bat Levi die Lichter zu löschen, glitt auf das Podium und hob den Deckel des Flügels empor. Und indem er mit der Linken die Tasten griff, wischte er mit einem seidenen Tuch in der Rechten weich über die Saiten hin, daß der Trauermarsch aus Beethovens Siebenter wie Geisterhauch durch die silberne Däm­merung schwebte. Das war sein Abschied von Partenkirchen. Die Wiederkehr war ihm nicht mehr gegönnt.“
 

Aus: Walther Siegfried, Aus dem Bilderbuch eines Lebens (Zürich, Leipzig 1929) Band III, S. 195ff


 

 

 

© Alois Schwarzmüller 2009