Stefan Zweig, Die Welt von Gestern. Erinnerungen eines Europäers

 

 

 

„Stefan Zweig wurde am 28. November 1881 in Wien als Sohn des Textilindustriellen Moritz Zweig geboren. Nach dem Besuch des Gymnasiums in Wien studierte er Germanistik und Romanistik. Unter dem Einfluss Hofmannsthals schrieb er früh Gedichte (Silberne Saiten, 1901). Seine ersten Novellen erschienen 1904. Weitere Novellenbände (Brennendes Geheimnis 1911, Amok 1922, Sternstunden der Menschheit 1927) folgten und machten ihn weltberühmt wie auch seine großen Biographien (Romain Rolland 1921, Joseph Fouché 1929, Maria Stuart 1935, Magellan 1938, Balzac postum 1946). Diese Werke verbanden subtile Seelenkenntnis mit einem spannungsreichen Erzählstil.

Der Erste Weltkrieg machte Zweig zum Pazifisten und Mitstreiter Romain Rollands. Nach einer Tätigkeit im  österreichischen Kriegsarchiv ging er 1917 nach Zürich und arbeitete bis 1919 für die »Neue Freie Presse« in der Schweiz. 1920 heiratete er Fridenke von Winternitz. Er wohnte von 1919 bis 1934 in Salzburg, ehe er nach London emigrierte.

Viele Studien- und Vortragsreisen führten ihn nicht nur in die westeuropäischen Länder, sondern auch nach Indien 1910, Nord- und Mittelamerika 1912, die Sowjetunion 1928 und ab 1935 mehrfach nach Südamerika. 1938 war seine erste Ehe geschieden worden, 1939 heiratete er Lotte Altmann. Er lebte kurze Zeit in New York und siedelte 1941 nach Petropolis (Brasilien) über, wo er am 22. Februar 1942 zusammen mit seiner zweiten Frau den Freitod suchte. In seinem Nachlaß fanden sich auch seine „Erinnerungen eines Europäers“, die voll Nostalgie und Trauer „Die Welt von Gestern“ beschwören. Zweigs schriftstellerisches Werk, darunter Nachdichtungen von Verhaeren, Baudelaire und Verlaine sowie viele politische und literarhistorische Essays, beeindruckt heute wie damals durch sein humanistisch geprägtes Weltbürgertum.“ (www.stefanzweig.de/Biographie.htm)

 

Stefan Zweig beschreibt in seiner 1940 begonnenen Autobiographie „Die Welt von Gestern. Erinnerungen eines Europäers“[1] die Begegnung mit Richard Strauss:
„Es war dies meine erste Zusammenarbeit mit Richard Strauss gewesen. Vordem hatte seit der „Elektra“ und dem „Rosenkavalier“ Hugo von Hofmannsthal alle Operntexte für ihn geschrieben, und ich war nie Richard Strauss per­sönlich begegnet. Nach dem Tode Hofmannsthals ließ er mir nun durch meinen Verleger sagen, er möchte gerne eine neue Arbeit beginnen, und ob ich bereit sei, ihm einen Opemtext zu schreiben. Ich empfand ganz das Eh­renvolle eines solchen Antrags… Ich er­klärte mich sofort bereit und machte gleich bei der ersten Begegnung Strauss den Vorschlag, als Mo­tiv einer Oper das Thema „The Silent Woman“ von Ben Jon­son zu nehmen, und es bedeutete für mich eine gute Überraschung, wie rasch, wie klarsichtig Strauss auf alle meine Vorschläge einging. Nie hatte ich bei ihm einen solchen rapid auffassenden Kunstverstand, eine so er­staunliche drama­turgische Kenntnis vermutet…“[2]

In einem der ersten Gespräche erklärt Strauss, warum er sich immer mehr der Oper zugewandt habe:

„Er wisse wohl, daß es mit der Oper als Kunstform eigentlich vorbei sei. Wagner sei ein so unge­heurer Gipfel, daß niemand über ihn hinauskommen könne. »Aber«, fügte er mit einem breiten bajuwarischen Lachen bei, »ich habe mir geholfen, indem ich einen Um­weg um ihn gemacht habe. «“[3]

Zweig bewundert die Arbeitsweise des Komponisten:

„Strauss arbeitet sachlich und kühl, er komponiert - wie Johann Sebastian Bach, wie alle diese sublimen Handwerker ihrer Kunst - ruhig und regelmäßig. Um neun Uhr morgens setzt er sich an seinen Tisch und führt genau an der Stelle die Arbeit fort. wo er gestern zu komponieren aufgehört, regelmäßig mit Bleistift die erste Skizze schreibend, mit Tinte die Kla­vierpartitur, und so pausenlos weiter bis zwölf oder ein Uhr. Nachmittags spielt er Skat, überträgt zwei, drei Sei­ten in die Partitur und dirigiert allenfalls abends im Thea­ter. mandiert« nach Goethes Wort seine Einfälle; Kunst heißt für ihn Können und sogar Alles-Können, wie sein lustiges Wort bezeugt: »Was ein richtiger Musiker sein will, der muß auch eine Speiskarte komponieren können.« Schwierigkeiten erschrecken ihn nicht, sondern machen seiner formenden Meisterschaft nur Spaß. Ich erinnere mich mit Vergnügen, wie seine kleinen blauen Augen funkelten, als er mir bei einer Stelle triumphierend sagte: »Da habe ich der Sängerin etwas aufzulösen gegeben! Die soll sich nur verflucht plagen, bis sie das herausbringt.« In solchen seltenen Sekunden, wo sein Auge auffunkelt. spürt man, daß etwas Dämonisches in diesem merkwür­digen Menschen tief verborgen liegt, der zuerst durch das Pünktliche, das Methodische, das Solide, das Handwerk­liche, das scheinbar Nervenlose seiner Arbeitsweise einen ein wenig mißtrauisch macht, wie ja auch sein Gesicht zuerst eher banal wirkt mit seinen dicken kindlichen Wangen, der etwas gewöhnlichen Rundlichkeit der Züge und der nur zögernd zurückgewölbten Stirn. Aber ein Blick in seine Augen, diese hellen, blauen, stark strahlenden Augen, und sofort spürt man irgendeine besondere magi­sche Kraft hinter dieser bürgerlichen Maske. Es sind viel­leicht die wachsten Augen, die ich je bei einem Musiker gesehen, nicht dämonische, aber irgendwie hellsichtige, die Augen eines Mannes, der seine Aufgabe bis zum letz­ten Grunde erkannt.“[4]

Zweig schreibt Strauss das Libretto für seine Oper „Die Schweigsame Frau“. Man begegnet sich in Garmisch:

„… er kam in unser Haus und ich zu ihm nach Garmisch, wo er mir mit seinen langen schmalen Fingern am Klavier aus der Skizze nach und nach die ganze Oper vorspielte. Und ohne Vertrag und Verpflich­tung wurde es selbstverständlich ausgemachte Sache, daß ich nach Beendigung dieser Oper gleich eine zweite ent­werfen sollte, deren Grundlagen er schon im voraus rest­los gebilligt hatte.“[5]

Das Verhältnis zwischen dem Komponisten Strauss und seinem Librettisten Zweig ändert sich auch nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten zunächst nicht:

„Januar 1933, als Adolf Hitler zur Macht kam, war un­sere Oper, die „Schweigsame Frau“, in der Klavierpartitur so gut wie fertig und ungefähr der erste Akt instrumen­tiert. Wenige Wochen später erfolgte das strikte Verbot an die deutschen Bühnen, Werke von Nichtariern oder auch nur solche aufzuführen, an denen ein Jude in irgend­einer Form beteiligt gewesen; sogar auf die Toten wurde der große Bann ausgedehnt und zur Erbitterung aller Mu­sikfreunde der Welt Mendelssohns Standbild vor dem Gewandhaus in Leipzig entfernt. Für mich schien mit die­sem Verbot das Schicksal unserer Oper erledigt. Ich nahm als selbstverständlich an, daß Richard Strauss die weitere Arbeit aufgeben und eine andere mit jemand anderem be­ginnen würde. Statt dessen schrieb er mir Brief auf Brief, was mir denn einfiele; im Gegenteil, ich solle, da er jetzt schon an die Instrumentation gehe, für seine nächste Oper den Text vorbereiten, er denke nicht daran, sich von ir­gend jemandem die Zusammenarbeit mit mir verbieten zu lassen; und ich muß offen bekennen, daß er im Verlauf der ganzen Angelegenheit mir kameradschaftliche Treue gehalten hat, solange sie zu halten war.“[6]

Zweig beobachtet aber auch, wie Strauss sich immer mehr von Hitler und Goebbels und von der nationalsozialistischen Kulturpropaganda einnehmen und gewinnen lässt:

„Freilich traf er gleichzeitig Vorkehrungen, die mir weniger sympathisch waren - er näherte sich den Machthabern, kam öfters mit Hitler und Göring und Goebbels zusammen und ließ sich zu einer Zeit, da selbst Furtwängler sich noch offen auf­lehnte, zum Präsidenten der nazistischen Reichsmusikkammer ernennen. Diese seine offene Teilnahme war den Nationalsozia­listen in jenem Augenblick ungeheuer wichtig. Denn är­gerlicherweise hatten nicht nur die besten Schriftsteller, sondern auch die wichtigsten Musiker ihnen offen den Rücken gekehrt, und die wenigen, die zu ihnen hielten oder überliefen, waren in den weitesten Kreisen unbe­kannt. In einem solchen peinlichen Augenblick den be­rühmtesten Musiker Deutschlands offen auf ihre Seite zu bekommen, bedeutete für Goebbels und Hitler im rein dekorativen Sinn unermeßlichen Gewinn. Hitler, der, wie mir Strauss erzählte, schon in seinen Wiener Vagan­tenjahren mit Geld, das er sich mühsam auf irgendeine Weise verschafft hatte, nach Graz gefahren war, um der Premiere der „Salome“ beizuwohnen, ehrte ihn demon­strativ; an allen festlichen Abenden in Berchtesgaden wurden außer Wagner fast nur Strausssche Lieder vorgetragen.“[7]

Und schließlich - halb verstehend, halb distanziert – analysiert Zweig die Gründe für die Näherung des „unpolitischen“ Strauss an den nationalsozialistischen Kultur- und Propagandabetrieb:

„Bei Strauss dagegen war die Teilnahme bedeutend absichtsvoller. Bei seinem Kunstegoismus, den er jeder­zeit offen und kühl bekannte, war ihm jedes Regime in­nerlich gleichgültig. Er hatte dem deutschen Kaiser ge­dient als Kapellmeister und für ihn Militärmärsche instru­mentiert, dann dem Kaiser von Österreich als Hofkapell­meister in Wien, war aber ebenso in der österreichischen und deutschen Republik persona gratissima gewesen. Den Nationalsozialisten besonders entgegenzukommen, war außerdem von vitalem Interesse für ihn, da er in na­tionalsozialistischem Sinne ein mächtiges Schuldkonto hatte. Sein Sohn hatte eine Jüdin geheiratet, und er mußte fürchten, daß seine Enkel, die er über alles liebte, als Aus­wurf von den Schulen ausgeschlossen würden; seine neue Oper war durch mich belastet, seine früheren Opern durch den nicht „rein arischen“ Hugo von Hofmannsthal, sein Verleger war ein Jude. Um so dringlicher schien ihm geboten, sich Rückhalt zu schaffen, und er tat es in beharr­lichster Weise. Er dirigierte, wo die neuen Herren es gerade verlangten, er setzte für die Olympischen Spiele eine Hymne in Musik und schrieb mir gleichzeitig in seinen unheimlich freimütigen Briefen über diesen Auftrag mit wenig Begeisterung. In Wirklichkeit bekümmerte ihn im sacro egoismo des Künstlers nur eines: sein Werk in le­bendiger Wirksamkeit zu erhalten und vor allem die neue Oper aufgeführt zu sehen, die seinem Herzen besonders nahestand.“[8]

Zweig weiß um den Zwiespalt, in dem er sich befindet – auf der einen Seite die hohe Achtung für den Komponisten Strauss und sein Werk, auf der anderen Seite die Gefahr der Mithaftung für den Straussschen Opportunismus:

„Mir mußten derlei Konzessionen an den Nationalsozia­lismus selbstverständlich im höchsten Maße peinlich sein. Denn wie leicht konnte der Eindruck entstehen, als ob ich heimlich mitwirkte oder auch nur zustimmte, daß mit meiner Person eine einmalige Ausnahme in einem so schmählichen Boykott gemacht würde. Von allen Seiten drängten meine Freunde auf mich ein, öffentlich gegen eine Aufführung im nationalsozialistischen Deutschland zu protestieren. Aber erstens verabscheue ich prinzipiell öffentliche und pathetische Gesten, außerdem wider­strebte es mir, einem Genius von Richard Strauss' Range Schwierigkeiten zu bereiten. Strauss war schließlich der größte lebende Musiker und siebzig Jahre alt, er hatte drei Jahre an dieses Werk gewandt und während dieser ganzen Zeit mir gegenüber freundschaftliche Gesinnung, Kor­rektheit und sogar Mut bezeigt. Deshalb hielt ich es mei­nerseits für das Richtige, schweigend zuzuwarten und die Dinge ihren Lauf nehmen zu lassen.“[9] 

 


[1] Die erste Ausgabe erschien im Jahre 1944 im Bermann-Fischer Verlag Stockholm.

Hier wird nach der Ausgabe zitiert, die 1970 im Fischer Taschenbuch Verlag erschienen ist: Stefan Zweig, Die Welt von Gestern. Erinnerungen eines Europäers (Frankfurt am Main, 1970) S. 417-427

[2] S. 418

[3] S. 418

[4] S. 420f

[5] S. 421

[6] S. 421f

[7] S. 422f

[8] S. 423

[9] S. 423f

 

 

 

© Alois Schwarzmüller 2007