April 1945 - Die Todesmärsche nach Mittenwald

 

 

 

 

 

Requiem II

Eine kalte Nacht. Nachtfrost. Ende April. Die dunkle, von Häusern zugemauerte Straße, un­ter dem Asphalt der Bach. Keine Farben. Morgen­grauen. Gemurmel, Schreie, Stöhnen in der Straßen­schlucht.

Hinter eisigen Fensterscheiben sammeln sich Men­schen, auch Kinder. Sie sehen eine klagende Masse, die sich durch die Straße wälzt. Beim Näherkommen löst sich der Haufen in einzelne Menschen auf. Min­destens hundert Gestalten, in grauen Fetzen, mit kahlgeschorenen Schädeln. Skelette, die in Lumpen einherwanken, auf allen vieren kriechen, liegenblei­ben. Einige schwarze Figuren schlagen und treten auf sie ein, peitschen sie weiter. Die Leute hinter den Fenstern können nicht wissen, was sie sehen. Erinnern sich jetzt der Kinder. Zu spät. Die Kinder haben alles gesehen, für alle Zeiten.

Von den Fenstern lösen sich Zornige, nehmen Stöcke, Prügel, gehen auf die Straße, stürzen sich auf die schwarzen Männer, schlagen sie in die Flucht. Sie nehmen die Unglücklichen, tragen oder geleiten sie in ihre Häuser, geben ihnen vorsichtig zu trinken, obwohl sie nichts mehr bei sich behalten, heizen für sie die Öfen ein, geben ihnen Kleider und eine Stelle am Boden, wo sie liegenbleiben und ausruhen kön­nen, geben ihnen eine Decke und ein Kissen unter den Kopf, merken nicht, daß sie weinen, können es immer noch nicht begreifen.

Das war kein Traum, der sich am Morgen wie ein Ne­bel auflöst. Es war eine durch nichts aufzuhebende Wirklichkeit: die Auflösung eines Konzentrations­lagers, dessen Insassen auf der Flucht vor den Ame­rikanern von ihren Peinigern nach Süden getrieben wurden.

Jahrzehnte später standen Franziska und Susanne ne­beneinander auf einem Trottoir. Sie warteten auf den Überlandbus. Die Sonne schien matt auf eine Spur von Grün an den wenigen Bäumen und Sträuchern. Ende April.

Franziska sagte: «Wie sind eigentlich deine Erinne­rungen an die KZ-Häftlinge, an diesen Morgen, als sie kamen?»

«Warum fragst du? Grauenvoll sind sie. Ein Bild be­sonders: An dem Tag hätte ich eine Ration Zucker im Lagerhaus an der Bahn holen sollen. Als ich in den halbdunklen Raum trat, habe ich zuerst nur lee­re, zerrissene Zuckersäcke gesehen und glaubte, allein zu sein. Auf einmal hat sich auf dem Boden etwas be­wegt, ein Mensch. Nein, ein Skelett, das die Zucker­reste vom Boden aufleckte.»

Franziska sah, wie sich Susannes Gesicht zu einer schmerzlichen Grimasse verzog, hörte sie aufschluchzen, jetzt, nach dreißg Jahren, an der Bushaltestelle, vor allen Leuten.

„Entschuldige bitte!“ sagte Franziska.

Sie liefen ein paar Schritte von den erstaunten Leuten weg. Als der Bus kam, gingen sie zurück, setzten sich auf die hinterste Bank, nebeneinander, schwiegen.

Aus: Sybille Severus, Zum Mond laufen (Roman - Walter Verlag, Olten und Freiburg im Breisgau, 1981) S. 42ff

 

 

© Alois Schwarzmüller 2006