April 1945 - Die Todesmärsche nach Mittenwald

 

 

 

 

 

Maurice Cling: " ... und es wird mir schwer fallen Vernunft anzunehmen"

„Der Konvoi ist am Morgen losgefahren, hat das in Trümmern liegende München passiert and fährt nun ins offene Land hinein. Es ist ein elektrischer Zug, einer von denen, von denen er als Kind über die Weihnachtsprospekte der Modellbahnhersteller gebeugt oder vor den Vitrinen der Kaufhäuser stehend so sehr geträumt hat. Jemand hat von Tirol gesprochen. Halt in einem kleinen Bahnhof. Die „Reisenden" steigen aus.

Sie werden zuerst auf einer großen Wiese zusammengetrieben, die hinter dem Bahnhof an den Gleisen liegt. Dann steigen sie eine lange Straße bergauf, flankiert von Wachen. Vor einer Bäckerei steht eine Menschenschlange. Sie kommen auf einen Platz, auf dem eine Kirche steht, und um den herum hübsche tiroler Häuser stehen, die alle bewundernswert gepflegt aussehen. Mit ihren struppigen und abgezehrten Gesichtern, ihrem erschöpften Ausdruck, ihrer seltsamen Kleidung, den Kreuzen auf dem Rücken, ihren schmutzigen Holzpantinen und ihrem abstoßenden Geruch sehen die deportierten Juden aus wie ein Haufen Landstreicher in einem Operettendekor.

Während sie von der SS umstellt warten, sieht Maurice die sonntäglich gekleidete Menge sich auf dem Platz zerstreuen, genau wie in jedem französischen Dorf. Für die „Gestreiften" ist diese friedliche und wohlhabende Menge, die sich tausend Meilen von ihrem Universum entfernt zu bewegen scheint, ein unwirklicher Anblick. Jungen in fescher tiroler Tracht nähern sich ihnen. Er will die Gelegenheit beim Schopfe packen: Es ist das erste Mal, daß er mit einem deutschen Zivilisten sprechen kann. Er hat so viel zu sagen! In seinem armseligen Häftlingsjargon möchte er es am liebsten herausschreien: „Wir sind Juden, wir haben nichts verbrochen, seht, in welchem Zustand wir uns befinden usw." Sie gehen unbekümmert fort, ohne zu antworten.

Man führt sie immer weiter bergan, bis sie - Gegenbefehl - wieder zur großen Wiese hinabgehen müssen: Dann verbreitet sich plötzlich wie ein Lauffeuer unter ihnen das Gerücht, daß der Krieg zu Ende sei. Sie umarmen sich, sie schreien vor Freude und werfen ihre Papiertüten in die Luft. Feuer glimmt irgendwo auf. Die Zivilisten sind überrascht. Falschmeldung: Die SS ist noch immer auf ihrem Posten. Sie stellt die Ordnung wieder her, indem sie ihre Waffen deutlich sichtbar zur Schau stellt.

Es regnet. Die Nacht bricht herein. Schon bald fängt es an zu schneien. Man läßt sie etwa eine Stunde dieselbe Bergstraße hinansteigen wie zuvor. Sie sind völlig entkräftet. Einige stürzen. Hinter ihnen knallen gelegentlich Schüsse. Die Straße steigt weiter an. Sie durchqueren einen Wald. In einem kleinen Weiler steht ein Kreuz an der Straße. Sie halten vor einer Scheune neben einem Misthaufen an. Hier werden sie die Nacht verbringen. Die SS trinkt auf dem Bauernhof Kaffee. In der Scheune stehen zahlreiche landwirtschaftliche Geräte: Sensen, Rechen usw. Die Kräftigsten klettern auf einen Heuhaufen. Er legt sich in einen Trog, der unter drohend darüber aufgehängten Mistgabeln und Sensen steht, wird aber bald von einem Erwachsenen daraus vertrieben. Es hat keinen Sinn, zu streiten. Er kennt die Regeln. Er rollt sich in der Nähe auf dem Boden zusammen und schläft wie ein Stein.

Als sich am Morgen das große hölzerne Tor öffnet, sieht Maurice, daß es über Nacht heftig geschneit hat. Der Schnee glitzert in der Sonne. Als sie wieder ins Dorf hinabgehen, ist er heiter gestimmt. Ein Pfadfinderlied liegt ihm auf der Zunge. Zum ersten Mal seit einer Ewigkeit summt er leise vor sich hin:

»La route est dure sur la montagne Mais nous allons, plein de courage.«

Plötzlich sieht er an der Böschung eine Leiche liegen.

»Dans l'ouragan, nos coeurs qui chantent Sont des livres de leurs tourments.«

Kleine Rinnsale laufen über die Straße, einige knien nieder, um daraus zu trinken. Als sie den Bahnhof erreichen, sehen die „Gestreiften" den Zug auf dem Bahnsteig stehen. Offene Güterwaggons. Die große Wiese ist ihr Wartesaal. Maurice steigt in einen Waggon. Ein SS‑Mann setzt sich innen vor die Tür und nimmt einigen Raum in Beschlag. Abfahrt. Der Konvoi fährt tief unten im Tal an den hohen, schroff geformten Bergen vorüber. Maurice entdeckt elektrische Leitungen über den Gleisen, wie er sie zuvor nur in Büchern gesehen hat. Halt des Zuges, Verlassen der Waggons, was angesichts ihrer Höhe über den Gleisen schwierig ist, Aufstellung in Fünferreihen. Wohin geht es? Die. Einsamkeit, die sie umgibt, ist drückend und scheint erfüllt von drohenden Gefahren. Die Häftlinge marschieren einige Kilometer und lassen Leichen auf ihrem Weg zurück. Die Kolonne stoppt an einer Stelle, an der sich das Tal erweitert. Die Landschaft ist wild und düster in der Dämmerung, vor allem, wenn man von der SS umstellt ist. Jenseits des steinigen Geländes, das sich an der Straße entlangzieht, erstreckt sich ein sandiger Uferstreifen bis zu einem Wildbach; der mit Getöse hinabstürzt. Ein idealer Ort, um sie zu erschießen. Diesmal gibt es keine Zweifel. Ein Maschinengewehr wird auf sie gerichtet. Sie kauern sich auf den Boden. Neben ihm sprechen wieder einige vom Ende des Krieges. Hier und da werden Feuer angezündet. Befehl, sie auszulöschen. Jeder richtet sich mehr schlecht als recht für die Nacht ein. Es dämmert. Das Schlimmste ist die Kälte. Regen und Schnee folgen aufeinander. Während so vieler Jahre hat er davon geträumt, in freier Natur zu campen - „Le camp, le camp nous appelle ..." („Das Zeltlager, das Zeltlager ruft uns ...") ‑, daß er sogar jetzt daran denken muß, obwohl er in seiner dünnen, nassen Kleidung vor Kälte erstarrt ist und im Kies eine Mulde formt, um sich ein möglichst bequemes Lager zu schaffen.

Ein SS‑Mann wendet sich an die große Häftlingsmenge. Natürlich versteht Maurice wieder kein einziges Wort. Und kein Übersetzer ist in der Nähe. Pech. Die Nacht ist hereingebrochen. Der Ort ist nun finster. Plötzlich ertönen Schüsse. Jemand muß versucht haben zu fliehen. Schwimmend, im Wildbach? Es fällt schwer, auf dem Kies zu schlafen, aber matt gewöhnt sich daran, vor allem, wenn man vor Müdigkeit umfällt. Es beginnt zu schneien. Erneut Schüsse in der Dunkelheit, mehrmals. Ist es ihnen gelungen zu fliehen?

Als ei erwacht, hört er zu seiner Überraschung die große Neuigkeit: Die SS ist verschwunden und wurde durch alte Wehrmachtssoldaten und Jungen seines Alters ersetzt, alle in graugrüner Uniform. (13). Er betrachtet sie aufmerksam. Die Alten scheinen zumeist keine fiesen Kerle zu sein, aber die Jungen sind voller Eifer und stolz, ein Gewehr zu besitzen; sie muß man wohl eher fürchten. Man wird sehen.

„Mittenwald" kündigt ein Schild am Eingang eines Marktfleckens an. Halt für die Verteilung von Suppe. Einige der verhungerten Häftlinge werden handgemein. Dann setzt sich der Zug wieder in Bewegung. Eine Frau schenkt ihm im Vorübergehen zwei Kartoffeln. Während sich die Kolonne mittlerweile über die ganze ansonsten menschenleere Hauptstraße ausdehnt, sieht er, wie ein „Gestreifter" auf der Schwelle eines Hauseinganges zusammenbricht. Die Tür öffnet sich und schließt sich wie von Zauberhand wieder hinter ihm.

Man sieht einige Gesichter hinter den Fenstern. Er beschließt, sein Glück zu versuchen. Er setzt sich vor die nächstbeste Tür. Aber ach! Einer der jungen Soldaten von ihrer Bewachung steht plötzlich vor ihm und richtet sein Gewehr auf ihn. Außer sich vor Angst springt Maurice mit einem Satz auf. Es wäre idiotisch, hier zu sterben, wenige Tage, ja, vielleicht nur wenige Stunden vor Kriegsende, nachdem er all das andere überlebt hat! Er läuft mit den anderen weiter. Ein ungarischer Zivilist wirft seinen Landsleuten in der Kolonne Kuchen zu. Der Zug zieht sich nach und nach auseinander, wird auf der gewundenen Straße immer länger. Es wird Abend. In der Dämmerung scheint es ihm, als würden ihre Bewacher immer weniger und als lösten sich von Zeit zu Zeit einzelne Häftlinge in Luft auf. Plötzlich trennen sich wenige Meter links von ihm zwei Männer von der Gruppe, rennen so schnell sie können und erklimmen die Anhöhe, die neben der Straße aufragt; als sie auf der Höhe anlangen, heben sie ihre Arme in einer Geste des Triumphes und verschwinden hinter dem Hügel. Was haben sie dort erblickt? Die Freiheit? Alles hat sich innerhalb weniger Sekunden zugetragen. Sich selbst überlassen, muß er nun einen geschützten Platz in der eiskalten Landschaft ausfindig machen.

Er faßt eine etwas abseits stehende Scheune ins Auge, die einige dutzend Meter von der Straße entfernt steht. „Gestreifte" liegen im Stroh. Er nimmt etwas von dem Stroh mit und schlüpft in einen nebenan stehenden Schuppen. Dort befinden sich bereits zwei junge polnische Juden. Die drei Jungen verbarrikadieren sich in dem Schuppen. Während der Nacht ist ganz in der Nähe das Donnern der schweren Artillerie zu hören. Fahrzeuge fahren auf der Straße vorüber. Für einen Augenblick meint er zu hören, wie hinter der Holzwand Englisch gesprochen wird, aber er verwirft diese Vorstellung im Halbschlaf wieder.

Am Morgen hört er, wie seine Nachbarn davonlaufen und in ihrer Sprache rufen: „Die Amerikaner!" Unmöglich. Zu häufig ist er schon enttäuscht worden und weigert sich, es zu glauben. Er schläft wieder ein. Dann wird er von einer englischen Stimme geweckt. Er steht auf, um der Sache auf den Grund zu gehen. Zwischen zwei Holzlatten hindurchspähend sieht er, wie Lastwagen vorbeifahren. Ist das wirklich wahr?

Als er mit klopfendem Herzen aus dem Schuppen heraustritt, ist er verblüfft: Entlang der ganzen, gestern noch leeren Straße stehen khakifarbene Militärfahrzeuge, die alle einen mysteriösen weißen Stern tragen. Und wenn es deutsche Truppen wären? Auf einem Lastwagen mit einer langen Antenne liest er „US".

Diesmal gibt es keinen Zweifel, sie sind es wirklich! Ich sehe nichts mehr, weder die Motorräder mit Beiwagen, die mit großer Geschwindigkeit vorbeirasen, noch die auf der Straße entzündeten Feuer; ich versuche zu rennen, ich renne so schnell durch den Schnee, daß ich ganz. atemlos bin, renne überglücklich meinen Befreiern entgegen. Es ist verrückt. Ich weine, ich lache, erfüllt von Glück. Durch meine Tränen hindurch sehe ich große lächelnde Kerle von zwanzig Jahren, sie tragen khakifarbene Jacken und seltsame Helme. Sie scharen sich um mich. Können sie den abgemagerten Knaben verstehen, der mit einem völlig verschmutzten braunen Mantel bekleidet, schluchzend auf sie zustürzt?

Man fragt mich aus, reicht mir Kekse, Schokolade, Käse, Zigaretten. Um mich herum essen meine Kameraden. Ich wärme mich auf, ich stopfe mich voll und fülle meine Taschen. Ich stammle und suche nach Worten. Ich menge deutsche Worte unter die englischen. Ich möchte sagen: Deportierter, Gefangener, Lager. Meine Englischstunden liegen so lange zurück! Ich sehe Geschütze, seltsame kastenförmige Fahrzeuge, die mit Antennen gespickt sind, Krankenwagen, die auf der Rückfront ein rotes Kreuz tragen, was seltsamerweise von zwei abgerundeten Fenstern zerschnitten wird; dann, so weit das Auge reicht, Planwagen. Plötzlich fährt der Konvoi weiter. Ich würde gerne mit ihnen fahren. Sie weisen mir die entgegengesetzte Richtung. Wir verabschieden uns. Für sie geht der Krieg weiter. Für uns ist er vorbei, aber wir stehen nun alleine auf der leeren Straße. Ich fühle mich verlassen. War es nur ein Traum?

Befreiung. Befreiung?

Ich gehe, genauer gesagt schleppe ich mich Richtung Mittenwald dahin, das wir am Vortage verlassen hatten. Ich betrete zusammen mit einigen anderen ein leerstehendes Haus, auf der Suche nach der Küche. Ein Jude in Zivilkleidung gibt uns Nudeln, die er zusammen mit Fleisch gekocht hat. Er fleht uns an fortzugehen.

Rechts brennt ein großes Feuer. Kameraden haben es angezündet, um sich zu wärmen. Ich gehe zu ihnen. Man reicht mir Kaffee. In der Nähe wurde eine metallene Brücke für das Militär über einen Fluß geschlagen. Lastwagen fahren in langer Reihe darüber. An beiden Enden der Brücke ist ein großer amerikanischer Soldat postiert. Man kann auf seiner schwarzen Armbinde die Buchstaben MP (Military Police) erkennen. Am anderen Ufer stehen Juden um einen Lastwagen herum. Ich gehe hinüber. Ein amerikanischer Soldat verteilt Lebensmittel. Ich bin nicht in der Lage, meine Ellenbogen einzusetzen, und schnell ist der Lastwagen leer, und die Menge verläuft sich. Ich bleibe allein vor dem Soldaten mit leeren Händen stehen. Voller Mitleid reicht er mir sein Schwarzes Fahrrad, das ich automatisch ergreife. Der Lastwagen entfernt sich.

Ich besteige mit Mühe das Rad, mit dem ich kaum etwas anzufangen weiß. Ich komme kaum voran. Jemand folgt mir, sichtlich interessiert an dem Rad. Ich zwinge mich zu beschleunigen, aber mir fehlt die Kraft dazu. Ich habe Mühe, das Gleichgewicht zu halten und bin nicht in der Lage, kräftig in die Pedale zu treten. Er wird mich bald eingeholt haben, das ist sicher. Vor mir taucht eine Steigung auf. Das ist der Todesstoß. Ich steige ab und überlasse das Rad ohne ein Wort zu sagen einem Zivilisten, der in der Nähe steht.

Die khakifarbenen Lastwagen folgen auf der Straße dicht aufeinander. Ich schließe mich zwei Kameraden an. Ein Offizier weist uns den Weg zu einem Lager. Wir steigen den Hang hinauf. Es handelt sich um ein Barackenlager der Luftwaffe, wo wir uns im Stroh einrichten, zwischen zurückgelassenen Uniformen und Gerätetaschen. Hier und da liegen persönliche Briefe auf den Decken herum. Es scheint, daß es weiter weg in den Bergen Verpflegung gibt. Wir marschieren lange den Hang hinauf, dann in einen Wald hinein, wo wir ein paar verlassene, ausgeplünderte Lastwagen entdecken. Um sie herum sind Waffen verstreut, aber nichts zu essen. Schließlich finden wir große Feldkessel, die einmal Milch enthalten haben und auf deren Boden noch Zucker klebt. Wir schaben ihn mit einem Kochgeschirr ab, sind jedoch bald davon angeekelt. In Ermangelung etwas Besseren kehren wir in das Barackenlager zurück und Strecken uns im Stroh aus. Es ist extrem kalt. Einige haben draußen Feuer angezündet, um Suppe zu kochen. Ich biete ihnen meinen Zucker zum Tausch gegen eine Dose Fleisch an: kein Interesse. Enttäuscht behalte ich ihn. Ich leide noch immer an der Diarrhöe." Meine zwei Kameraden. die kräftiger sind als ich, gehen zu einer Verteilung deutscher Militärkleidung, von der man uns erzählt hat. Sie bringen mir ein khakifarbenes Hemd und Unterhosen mit.

Ich habe Hunger. Ich gehe zum Dorf hinab. Ferienhäuser liegen am Weg. Eines ist schwer beschädigt. Ich gehe hinein, suche nach Kleidung und hoffe, etwas zu essen zu finden. In der ersten Etage befindet sich ein Zimmer, in dem große Unordnung herrscht; Kleidung liegt verstreut auf dem Bett und auf dem Teppich herum, und überall liegen Banknoten. Mit steifgefrorenen Fingern ziehe ich mir ungeschickt Strümpfe und weiße Baumwollhandschuhe an, reiße einen Pelzkragen ab, lege ihn mir um den Hals und setze mir eine Art grüngrauer Militärmütze mit Ohrenschützern auf. Auf einem Möbelstück steht eine Flasche Martini, die mich an Frankreich erinnert.

Als ich aus dem Chalet herauskomme, greift mich eine schreiende Furie an. Sie entreißt mir den Pelzkragen und die Handschuhe. Ich lasse sie gewähren, und als sie an den Ärmeln meines Mantels zerrt, begnüge ich mich damit, mich umzudrehen, um ihr das Andreaskreuz auf dem Rücken zu zeigen. Sie insistiert nicht länger. Ich setze meinen Weg fort und sage mir, daß mir wenigstens die Mütze und die unter der Hose verborgenen Strümpfe geblieben sind. Entlang der Straße stürzt ein Bach den Abhang hinunter. Der Rauhreif, der wie ein Spitzengewebe die Büsche bedeckt, glitzert in der Sonne. Die Landschaft ist bezaubernd. Ich ertappe mich dabei, wie ich mich an ihren Reizen erfreue, trotz der schmerzenden Füße, der steilgefrorenen Finger, des Hungers und des Durchfalls.

In den Cafès und den fröhlichen Gasthäusern mit ihren Inschriften in Frakturschrift auf der Fassade sieht man in der Wärme Deutsche fröhlich schmausen.

Rückkehr ins Barackenlager. Heftige Diskussionen. Ein Zivilist im Mantel, der eine Armbinde des Roten Kreuzes und einen weichen Hut trägt, gibt Befehle. Ein kleiner amerikanischer Lastwagen kommt, der einige von uns mitnimmt; er kommt mehrmals wieder. Flohbefallene Vagabunden schubsen einander, um einen Platz zu bekommen. Schwach wie ich bin, bleibe ich mit ein paar anderen Kameraden zurück. Wird man uns hier zurücklassen? Ein Offizier weist mir einen Hintersitz in einem dieser offenen, viereckigen khakifarbenen Autos zu, an deren Seiten große Benzinkanister und Werkzeuge befestigt sind. Es fährt plötzlich los und rast mit lebensgefährlichem Tempo über die Gebirgsstraßen. Der eisige Wind durchdringt mich bis auf die Knochen. Ich fühle mich in meiner Haut höchst unwohl und bin bei jeder Kurve davon überzeugt, daß wir in den Abgrund stürzen. Über die Schultern der Soldaten werfe ich einen Blick auf den Geschwindigkeitsmesser. Die Nadel steht nahe der Höchstgeschwindigkeit: 60. Weshalb zeigt sie bei dieser wahnsinnigen Geschwindigkeit nur 60 an?

Nach einigen Dutzend Kilometern erreichen wir Garmisch und fahren in den Hof einer imposanten grauen Kaserne.

Unbegreiflich. Wir sind in die Falle gegangen, eingesperrt und gutbewacht auf diesem großen militärischen Gelände, Gefangene unserer Befreier.

Die Franzosen haben sich zusammengeschlossen. Wir haben in unserem Achterzimmer echte Betten - echte Betten! - und Schränke. Einige haben eine Trikolore genäht, die sie über der Eingangstür unseres Blockes aufgehängt haben. Unter uns sind einige „Freiwillige" oder STOs. Genau weiß man es nicht. Eine Organisation ist entstanden. Der sehr pfiffige Carino - ein großer, etwa dreißigjähriger Bursche - hat einen Radioempfänger aufgestöbert und einen Lautsprecher vor unserem Gebäude installiert. Als wir uns am 8. Mai davor versammelt hatten, lauschten wir sehr bewegt der Rede von General de Gaulle und der „Marseillaise".

Amerikaner sind vorbeigekommen und haben nach Freiwilligen gesucht, die die auf den Straßen erschossenen Häftlinge [der Todesmärsche] begraben sollten. Unsere Sprecher lehnen das mit Entrüstung ab: Soll man doch Deutsche dazu nehmen! Was unser Schicksal anbelangt, heißt es offenbar abwarten. Weshalb behält man uns hier, wenn doch der Krieg zu Ende ist? Ich richte mich in dieser Wartestellung ein, schon lange daran gewöhnt, alle Gedanken an die Zukunft zu verdrängen. Aber diesmal ist der Grund ein anderer. Ich fürchte die Heimkehr, die unerträgliche Gewißheit, die mich in Paris erwartet.

Die Kaserne ist riesig. Wir können uns frei in den leerstehenden Stuben und den Zimmern voller Uniformen und Gegenständen aller Arten bewegen. Gerüchte informieren uns über gute Adressen [d. h. Räume, in denen Nützliches zu finden ist], oder aber man folgt einfach dem einen oder anderen in die verschiedenen Stockwerke. Beim Öffnen der Türen, auf der Suche nach unbekannten Reichtümern, habe ich das Gefühl, ein außergewöhnliches Abenteuer zu erleben. Da gibt es zunächst eine Schneiderwerkstatt: Einzelne Schuhe und Stiefel liegen unordentlich herum, in allen Größen und verschiedensten Sorten. Ich schlüpfe mit meinem mageren Fuß in einen schweren Stiefel, aber es ist unmöglich, das Pendant für den anderen Fuß zu finden. Trotzdem bin ich auf diese Weise in die Welt von Mantel und Degen eingedrungen, die in meiner Lektüre auf den „Kleinen Däumling" gefolgt ist. Was einem doch ein Stiefel bedeuten kann, wenn man sechzehn Jahre alt ist! Schließlich muß ich mich mit großen Skischuhen zufrieden geben.

Woanders gibt es Jacken und Hosen in allen Größen. Ich empfinde eine seltsame Erregung, als ich bei meiner Schatzsuche in diesem Berg von Uniformen derer herumwühle, die gestern noch die Herren waren. Hier nimmt mein Sieg greifbare Formen an. Ich häufe in meinem Schrank verschiedene grün-weiße „Kostüme" mit glanzlosen Knöpfen an, die ich säuberlich auf Kleiderbügeln an Nägeln aufhänge. Dreist trage ich eine Feldmütze auf dem Kopf und frohlocke dabei, Soldat zu spielen. In einer Malerwerkstatt nehme ich mir blaue Farbe, um ein kleines deutsches Abzeichen mit den französischen Nationalfarben zu bemalen, und befestige es an meiner Kopfbedeckung. Kaum habe ich sie auf einen Sack gelegt, verschwindet sie auch schon. Der „Dieb" ist verschwunden. Ich weiß nicht, an wen ich mich wenden soll.

Die Keller verlocken mich. Unendliche Gänge sind unter den Gebäuden miteinander verbunden. Mit einer Taschenlampe versehen, bewegt man sich gelegentlich im Halbdunkel vorwärts, das vom Licht, das durch die Kellerfenster dringt, unterbrochen wird. Entlang der zementierten Gänge, in denen Spinnennetze hängen, öffnen sich mit unverständlichen deutschen Inschriften versehene Türen zu den unterschiedlichsten Magazinen. Manchmal habe ich ein wenig Angst in der Dunkelheit oder auch, wenn Totenköpfe auf bestimmten Türen erscheinen. Die Stille ist beeindruckend. Zuweilen muß ich mich vorwärtstasten. Eine Treppe bringt mich am anderen Ende der Kaserne wieder ans Tageslicht.

Die wunderbarste Entdeckung aber ist die eines Magazins des Afrikakorps. Was gibt es Phantastischeres, Exotischeres als diesen Tropenhelm, den ich voller Stolz aufsetze und mir damit den Traum aller Kinder meines Alters erfülle, die mit den ruhmreichen Überlieferungen von Reichsgründern genährt worden sind! Etwas weiter findet man Haufen von Shorts und Ledergurten mit dem guten rustikalen Geruch, zweifellos Zubehör für Skiausrüstungen. Ich füge meiner Ausstattung eine große Sonnenbrille hinzu, die ich mir um den Hals hänge, und, natürlich, eine schöne mit einem Schulterriemen versehene Feldflasche mit einem schwarzen Becher, den man daraufschrauben kann. So bin ich überglücklich und erregt durch die Uniformen und meine wunderbare Entdeckerausrüstung. Was macht es da schon, daß der rechteckige mit fahlrotem Fell bespannte Rucksack nicht dazu paßt, ebenso wenig wie das Edelweiß der Gebirgstruppen aus Metall, das ich mir an die Brust geheftet habe! Natürlich besteht für mich zwischen diesen Objekten und dem Afrikakorps Hitlers keinerlei Zusammenhang; ich knüpfe wieder an die Vorstellungen meiner Kindheit an.

Ein Amerikaner droht uns in seiner Sprache und vertreibt uns. Sie beginnen, uns damit auf die Nerven zu gehen, daß sie uns hier drinnen eingesperrt halten, ohne ein Wort der Erklärung, ohne daß wir wissen, was uns erwartet. Es scheint, daß sich einer von uns, der sich dem Ausgang näherte, plötzlich mit dem Lauf des Maschinengewehres einer Wache vor dem Bauch wiederfand.

Die Griechen fahren ab, dann, unter Geschrei, Fahnenschwenken und Winken, die Russen. Dann sind wir endlich an der Reihe. Lastwagen füllen sich mit unserem Gepäck. Wir klettern hinauf. Fahnen werden aufgehängt. dann geht es los Richtung Frankreich! Ich sitze hinter dem amerikanischen Fahrer. Ich habe beschlossen, in meiner Karnevalsausstattung heimzukehren, und es wird mir schwerfallen, Vernunft anzunehmen.“

Aus: Maurice Cling, Zweimal auf dem Todesmarsch - Ein Kind überlebt Auschwitz und Dachau (Dachauer Hefte Nr. 17/ 2001) S. 94-123

 

© Alois Schwarzmüller 2006