Albert Steinrück und Partenkirchen

 

 

 

Albert Steinrück (1872-1929) war seit Anfang der 1890er Jahre an Theatern in Mühlhausen, Breslau und Hannover sowie ab 1901 in Berlin beschäftigt. 1906 kam er zu Max Reinhardts Ensemble an das Deutsche Theater. Von 1908-20 war er am Hof- und Nationaltheater in München, wo er auch Regie führte und am Ende Intendant war. Dabei spielte er unter anderem den Woyzeck in der Uraufführung des gleichnamigen Dramas von Georg Büchner am 8. November 1913. In den 1920er Jahren war er wieder an verschiedenen Bühnen in Berlin beschäftigt.

Seit 1919 war Steinrück ständig auch beim Film tätig. Gerne wurde er besetzt in den Rollen grausamer Väter. Neben Rosa Valetti spielte er in Reinhold Schünzels Sittenfilm Das Mädchen aus der Ackerstraße. Sein Kollege Paul Wegener besetzte ihn 1920 als Rabbi Loew in Der Golem, wie er in die Welt kam. Ein großer Erfolg wurde 1922/23 Fridericus Rex von Arzén von Cserépy, in dem Steinrück Friedrich Wilhelm I. von Preußen spielte. Neben Asta Nielsen spielte er in Das Haus am Meer und Hedda Gabler, neben Henny Porten in Die Geierwally und Das goldene Kalb. Seine letzte Hauptrolle hatte er 1929 in Joe Mays Asphalt. Steinrück starb während der Probenarbeit zu Ehm Welks Schauspiel Kreuzabnahme, in dem er – an der Volksbühne Berlin – den sterbenden Schriftsteller Leo Tolstoi spielen sollte.

Albert Steinrück war in erster Ehe mit Elizabeth Gussmann (1885–1920), genannt Lisl, einer Schwester Olga Schnitzlers verheiratet. Wegen einer akut gewordenen Lungentuberkulose muss sie ihre Karriere früh beenden, verbringt ihr letzten Tage in einem Sanatorium in Partenkirchen und stirbt im April 1920 mit 34 Jahren, in zweiter Ehe mit Elisabeth, genannt Lissi (1897–1993), der Tochter des Malers Alfred Sohn-Rethel (1875–1958), Albert Steinrück wurde in Berlin auf dem Friedhof Zehlendorf beigesetzt.  (Quelle: Foto und Text wikipedia)

 

Das Haus Steinrück

"Das Haus Steinrück war ein abgelegener Mittelpunkt: Es lag nicht in München, wo Albert Steinrück dem Nationaltheater das künstlerische Relief gab, sondern in Partenkirchen.

Partenkirchen war zwar schon sportiv angehaucht, im übrigen aber noch ein großes Alpendorf. Ein Bach, ein Wiesengürtel und ein gründlicher Haß schied es von Garmisch. Die romanische Gründung Garmisch befehdete das romanische Partenkirchen. Man heiratete nicht von einem Dorf zum anderen, es gab Partenkirchener Bauern, die lieber einen Viertelstunden Umweg machten, als Garmischer Gebiet zu betreten.

Zu offener Feindschaft brachen die Antipathien im Fasching aus. Die Männer liefen in langen weißen Nachthemden durch den Schnee, der Unterschied bestand darin, daß die geschnitzten Holzmasken der Garmischer Schnurrbärte hatten, die der Partenkirchener keine. Dazu »raunzten« sie tierische Laute, die Flüche und Verwünschungen sein konnten. Verirrte sich ein Bartloser nach Garmisch oder ein Bärtiger nach Partenkirchen - und das konnte leicht geschehen, denn es war die Zeit des Jungbieres --, so ging man vom Raunzen zur Schlägerei über, die Besatzung der Wirtschaften nahm mit Maßkrügen kräftig teil, unvergängliche Narben wurden dabei geholt.

Mit dem Aschermittwoch beruhigten sich die Stürme. Am Samstag darauf konnte man den Ortspfarrer beobachten, wie er auf der Holzveranda der Kanonika seine Strafpredigt memorierte: am einen Ende stand eine Sanduhr, die das Maß der Predigt kontrollierte, am anderen Ende eine Maß Bier, die dem Zorn über die heidnische Raunzerei das nötige Feuer geben mußte. Am Sonntag war die Pfarrkirche gesteckt voll, und es war totenstill, teils dank der Zerknirschung, teils dank der Schläfrigkeit, denn das Gotteshaus war gut geheizt.

Ging man nachts durch die Ludwigstraße, so konnte man Leitern an die Giebelhäuser gelehnt sehen, das Fensterln war ein alter Väter-Brauch, an dem die Jugend nicht rütteln ließ.

Heute sind die Dörfer zu einer Stadtgemeinde vereinigt, der Fremdenzustrom hat die Zivilisation hereingespült und die alten Väter-Bräuche verdorben.

Steinrück war ein robust untersetzter Mann mit rötlichem Haar und einem fleischigen runden rosigen Gesicht. Die Wandlungsfähigkeit seiner Maske war außerordentlich. Er wurde ohne große mimische Tricks der schlappe Woyzeck Georg Büchners, dessen dumpfe Seele er mit schleichender Listigkeit herausbrachte, oder Grabbes klirrend scharfer Hannibal, oder Strindbergs dämonischer Hafenkapitän im »Totentanz«.

Schauspieler sind stark ichbezogene Leute, sie toben über ein kritisches Wort, in dem sie sich mißverstanden glauben, auch wenn es den Nagel auf den Kopf trifft; sie verzehren sich vor Neid über den Erfolg eines konkurrierenden Kollegen. Bis zur Identifizierung eingelebt in eine Rolle, sind sie überzeugt, daß ihre Auffassung die einzig richtige ist; das ist begreiflich, weil mit dieser Auffassung ihre Persönlichkeit steht und fällt. Eine Kritik kann töten und ebenso beleben wie wohl auch einen Schauspieler in die Vergessenheit stürzen.

Nichts davon bei Albert Steinrück, dem gebürtigen Rheinländer. Er nahm eine Kritik gelassen hin, er hatte keinen Dolch in der Tasche, jeder, ob er wollte oder nicht, mußte ihm »ein goldenes Herz« zugestehen. Auf den Proben konnte er in Wut geraten, wenn einer »schmiß«, aber vor der Tür des Bühnenausgangs war er der ehrlich lächelnde Freund, in der Münchner Torggelstube oder wo man sich gerade traf, belebte er jede Unterhaltung bis in den grauen Morgen hinein.

Wenn er zwei oder drei freie Tage vor sich sah, fuhr er nach Partenkirchen hinaus, wo seine Frau notgedrungen leben mußte: eine grazile kleine Person mit großen schwarzen Augen und den Zeichen schwindender Lebenskraft. Sie wußte, daß die Tuberkulose ihr nur noch eine kurze Frist ließ, aber sie hatte den Tod schon überwunden; sie machte etwas aus diesen letzten Jahren: aus sephardischer Familie stammend, wurde sie das geistige Zentrum aller derer, die in den Schnee oder in den Sommer hinausfuhren, nicht selten nur um ihretwillen.

Wenn die Gäste gegen Abend ihre Skier abgeschnallt hatten oder von Höhentouren zurückgekommen waren, stand sie unter Schmerzen auf, aber die Schmerzen schienen zu verfliegen. Sie bekam etwas Königliches in der Beherrschung des Kreises, der ihr kleines Wohnzimmer füllte.

Rahel Varnhagen mag so präsidiert haben. Der Vergleich ist nicht mutwillig herbeigeholt. »Ich hätte die Varnhagen gern gekannt«, sagte sie einmal, »wahrscheinlich hätten wir uns furchtbar gezankt, aber es hätte sich gelohnt.«

Ihr Geist war rastlos beschäftigt, sie holte die Welt, die ihr physisch verschlossen war, zu sich heran. Noch in der Woche vor ihrem Tod gab sie eine illuminierende Deutung Spenglers, dessen »Untergang des Abendlandes« das Gespräch der Stunde war, und sie prägte diese Deutung in blitzenden Apercus.

Sie stammte aus Wien, weshalb man bei ihr immer den einen oder anderen Wiener traf, der den diskussionsfreudigen Geist seiner Stadt mitbrachte, Arthur Schnitzler, der ihre Schwester Olga geheiratet hatte; Jakob Wassermann und Richard Beer-Hofmann, den sie den »seltenen Dichter« nannte, in doppeltem Sinne: wegen der Köstlichkeit seiner Verse und wegen der Sparsamkeit seiner Aussage; zwei Dramen, ein Gedicht, ein Novellenband und eine Rede waren die Ausbeute seiner sechzig Jahre.

Vom Bodensee her kam der vielgereiste Norbert Jacques und erzählte ihr aus China. Aus Gießen meldete sich der heute zu Unrecht vergessene hessische Bauernerzähler Alfred Bock, seriöser Kaufmann bürgerlichster Prägung; er hatte von den hohen geistigen Gaben der sterbenden Frau gehört, so daß er sich respektvoll in einen Gehrock geworfen hatte, den feierlichen Zylinder in der Hand. »Keine Begräbniszeremonie, lieber Herr Bock«, sagte sie »soweit ist es noch nicht.« Das machte ihn so verlegen, daß er den Zylinder unter den Stuhl stellte, wie es wohl einer seiner hessischen Bauern getan hätte; er selber war sonst ein durchaus weltgewandter Mann.

Und die junge Generation kam, zum Beispiel Kasimir Edschmid, der ihr später einen dichterisch schönen Nachruf schreiben sollte, in dem er das illustre Wesen von Lisi Steinrück magisch erfaßte. Und die weizenblonde Frau Starke, Witwe eines Kriegsfliegers, die unter dem Namen Henny Porten der erste Star des deutschen Films geworden war und eine strahlende Heiterkeit in das Krankenzimmer brachte.

Am Morgen konnte sie einen seltsamen Choral hören: Wenige Schritte entfernt sägte jemand Holz und sang dazu, um sich im Rhythmus zu halten: »Wie schön leuchtet der Morgenstern«, nur sehen konnte sie den singenden Sänger nicht, aber es hätte ihr nichts ausgemacht, den völlig kahlköpfigen wohlbeleibten Mann, der mit nichts als einer roten Badehose bekleidet war, begrüßen zu können. Die Stimme war keineswegs wohllautend, eher schrill, und zuweilen überschlug sie sich mit einem Glucksen. Sie gehörte dem großen Spötter Olaf Gulbransson.

Und wenn es seine Theaterpflichten erlaubten und ein zuweilen über ihn hereinbrechendes zigeunerisches Schweifen ihn nicht abhielt, kam also auch der massive Gatte Albert, der die gebrechliche Frau mit einer zarten Güte umgab.

Steinrück hatte als Maler an der Düsseldorfer Akademie angefangen, und er war keineswegs ein schlechter Maler gewesen. Aber das Theater hatte ihn stärker angezogen, die alte Passion war ihm dabei nicht verlorengegangen. Sobald er in Partenkirchen war, stieg er in den Keller, um Staffelei, Farbenkasten und Keilrahmen zu holen, nebenbei die Eiervorräte des Haushalts zu inspizieren, die weißen Schalen bezeichneten dann den Weg in die Wiesen, den er genommen hatte, von wo er Zugspitze und Alpspitze in spätimpressionistischer Manier festhielt

Der fünfzehn jährige Bruder seiner Frau, der zeitweilig zu Besuch herauskam, war mit diesem Stil nicht ganz einverstanden. Bei einer Wiederkehr fand Steinrück das Wettersteingebirge von einem rosenumrankten Gatter eingefaßt, es war eine Postkartenbuntheit fürs traute Heim geworden.

Es gab keinen Wutausbruch. Er schrieb den Namen des jugendlichen Attentäters als Signum in die Hecke und schickte die Tafel in eine Gemüsehandlung, wo sie zwischen Kohlrabi, Sauerkraut, Zwiebeln und Obstkörben die Kunden anlächelte. Ein durchreisender Amerikaner zahlte dafür zehn Mark.

»Vielleicht hast du recht«, sagte Steinrück zu dem kleinen Schwager. Er selber rührte keinen Pinsel mehr an.

In den kritischen Tagen Münchens, als links die Kommunisten, rechts die Ludendorff-Leute auf den Barrikaden standen und Berserkerstiefel das Hirn Gustav Landauers in den Kot traten, war Albert Steinrück Direktor des Nationaltheaters. Die Sorge für Haus und Ensemble erlaubte ihm keinerlei offene Parteinahme, aber er half menschlich, wo er konnte.

Der Dichter Ernst Toller, der, fünfundzwanzigjährig, Kriegsminister der »Roten« gewesen war, und der die Schlacht bei Dachau mit Mißerfolg geleitet hatte, wurde beim Einrücken der »Weißen« fieberhaft gesucht. Steinrück versteckte ihn in den Soffitten des Nationaltheaters, und als die Jagd bedenklich wurde, klebte er ihm einen prächtigen Theaterbart, der es Toller erlaubte, durch die Kette der militärischen Aufpasser zu entkommen: ein alter gebückter Mann wanderte die Ludwigstraße hinaus und verschwand in einem Schwabinger Gartenhaus.

Da ist noch Steinrücks Geschichte mit dem Porzellanteller."

 

Aus: Max Krell, Das alles gab es einmal (Frankfurt/M, 1961) S. 82-87

 

 

 

 

© Alois Schwarzmüller 2015